John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
überhaupt niemand erwartete. Sollte er tatsächlich niemanden vorfinden, war kein zweiter Treffpunkt vereinbart. Er sollte einfach
eine Stunde später nochmals an derselben Stelle auftauchen, und dann nochmals am darauffolgenden Tag. Wenn Cao auch nicht zum dritten Treffen kam, würde Wells abreisen – vorausgesetzt, es gäbe noch Flüge zwischen China und den USA. Selbstverständlich wussten weder die Botschaft noch der Stationsleiter, dass er hier war. Die Agency ging davon aus, dass der Maulwurf das gesamte Netzwerk in China verraten hatte. Um unbemerkt zu bleiben, musste Wells allein kommen.
Wells schaltete den Fernsehapparat aus und legte sich auf den Boden. Der Luxus der Suite bereitete ihm Unbehagen. Er mochte es nicht, wenn man ihm die Koffer trug, oder all die erlesenen Seifen und Shampoos in dem mit Marmor ausgekleideten Badezimmer. So seltsam es klang, zog er ein Feldbett in Afghanistan diesem Luxus vor. Außerdem erschien ihm die Gefahr seiner Mission in dieser prunkvollen Suite weniger real. Was sollte schon schiefgehen in einem Fünfsternehotel? Würde er an einem zu wenig gebratenen Steak ersticken?
Wells vermutete, dass sein Unbehagen lediglich bewies, dass er alles andere als der perfekte Spion war. Als wahrer Meister seines Handwerks müsste er sich überall nahtlos einfügen, in ein sibirisches Gefangenenlager ebenso wie in ein Shoppingcenter in Des Moines und in den Trubel eines brasilianischen Strandes. Zumindest lautete so die Theorie. Wells bezweifelte, ob es ein so perfektes Wesen im wahren Leben tatsächlich gab. Ein Spion, der sich in ein Netz irakischer Aufständischer einschleichen konnte, hatte wohl wenig gemeinsam mit einem Spion, der sich durch Beredsamkeit Zugang zu einem privaten Kasino in Moskau verschaffen konnte.
Wells legte seine Kleidung ab, trottete ins Bad und drehte
die Dusche auf. Hier gab es kein dünnes Rinnsal, das aus dem Duschkopf tröpfelte, keine Wartezeit, bis das Wasser warm wurde. Auch wenn er es sich nur ungern eingestand, hatte ein Aufenthalt in einem Fünfsternehotel auch seine Vorteile.
In den Sechzigerjahren, am Höhepunkt der Spannungen zwischen China und der Sowjetunion, hatte Mao den Bau eines Bunkers unter Zhongnanhai angeordnet, der ein Überleben im Fall eines direkten Treffers eines atomaren Sprengsatzes ermöglichen sollte. Im Lauf der Jahre hatte man die unterirdischen Räumlichkeiten erweitert. Heute erstreckte sich diese Miniaturstadt mit eigener Stromversorgung, eigenem Lebensmittellager und eigenem Krankenhaus mit vier Behandlungsräumen über eine Fläche von siebzehntausendfünfhundert Quadratmetern.
Der neueste Raum des Bunkers, mit der besten technischen Ausstattung, war das strategische Operationszentrum der Volksbefreiungsarmee, das erst vor sechs Monaten eröffnet worden war. Diese Operationszentrale mit einer Fläche von zweihundertfünfzig Quadratmetern war besser ausgestattet als das Krisenzentrum im Weißen Haus oder das NO-RAD – das nordamerikanische Luftverteidigungszentrum im Cheyenne Mountain in Colorado. Über Videoeinspielungen konnten die Generäle der Volksbefreiungsarmee die Starts und Landungen auf den chinesischen Luftstreitkräftestützpunkten in Echtzeit mitverfolgen. Über sichere Glasfaserleitungen waren sie mit den Silos verbunden, in denen das chinesische Atomwaffenarsenal lagerte. Eine Wand war einer gigantischen digitalen Landkarte des östlichen Pazifiks gewidmet, die einen umfassenden Überblick über die Positionen der chinesischen und feindlichen Flotte bot.
Dank einer Raumhöhe von sieben Metern wirkte der Raum trotz der vielen Mitarbeiter nicht beengend und überraschend leise. Das Summen der Festplatten und das Klappern der Tastaturen verschmolzen zu einer Hintergrundmusik, die auf ihre Weise so beruhigend war wie die Wellen des Ozeans und so unaufhörlich. Beständig wurden Informationen über die Befehlskette nach oben weitergeleitet und Anordnungen nach unten. Sie trafen sich auf einer erhöhten Plattform in der Mitte des Raumes, auf der Li stand und die Kopie einer Botschaft der Xian las.
Sobald er zu Ende gelesen hatte, wandte er sich der wandgroßen Landkarte des Pazifiks zu.
»Heben Sie die Xian und das Zielobjekt hervor«, befahl er Hauptmann Juo, dem Kommandeur der Verteidigungseinheit für den Ostpazifik in der Operationszentrale.
»Jawohl, General.« Juo gab etwas über die Tastatur ein, und schon erschienen zwei Blinklichter auf dem Schirm. Ein roter Kreis kennzeichnete die Xian und
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