John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
Zumindest sagte das sein Pass. Wells erwartete, dass der Fahrer in eine antiamerikanische Tirade ausbrechen und ihn aus dem Taxi werfen würde, sodass er den Rest des Weges zu Fuß gehen müsste. Stattdessen drehte er sich lächelnd zu Wells um, wobei er seine abgebrochenen gelben Zähne zeigte.
»Ka-li-fornien. Mein Cousin – Los Angeles.«
»Ich komme aus Palo Alto«, sagte Wells. Seine Coverstory. »Nordkalifornien. In der Nähe von San Francisco.«
Aber der Taxifahrer interessierte sich nicht für Palo Alto. »Los Angeles«, wiederholte er. »Hollywood. Hungrig.« Dabei hob der Fahrer begeistert den Daumen.
»Hungrig?«
»Gong-ri.« Der Taxifahrer hob ein chinesisches Hochglanzmagazin hoch, das eine wunderschöne Frau auf der Titelseite zeigte. Inmitten der chinesischen Schriftzeichen standen in arabischen Buchstaben die Worte: »Gong Li.«
»Gong Li. Das ist doch eine Schauspielerin, richtig? Ich sehe mir nicht allzu viele Filme an.«
»Gong-ri. Holly-wood.«
»Ich habe verstanden. Vermutlich sollten wir ernste Gespräche auf das nächste Mal verschieben. Sie begreifen wohl nicht, was ich sage, oder? Ich meine, ich könnte Ihnen jetzt meine Schwester zum Kauf anbieten, und Sie würden es nicht verstehen. Wenn ich eine Schwester hätte.« Wells hatte plötzlich Gewissensbisse. Seit Wochen hatte er nicht mehr mit seinem Sohn Evan gesprochen. Wenn er zurückkehrte, würde er mit dem Jungen in den Bitterroots angeln gehen – einer Bergkette an der Grenze zwischen Montana und Idaho, nicht weit entfernt von seiner Heimatstadt Hamilton. Vielleicht würden sie auch auf die Jagd gehen, sofern es seine Exfrau Heather gestattete. Aber der Angelausflug war sicher. Wenn er zurückkehrt. Nicht falls.
Der Taxifahrer grinste und bot Wells dann durch die Kunststofftrennwand aus einer zerknitterten Packung japanische 555er-Zigaretten an. »Sie wollen eine Zigarette?«
»Nein, danke.«
»Sie mögen China?«
»Sicher.«
Damit waren die Englischkenntnisse des Taxifahrers erschöpft. Er steckte sich eine 555er in den Mund und rauchte schweigend, bis sie eine halbe Stunde später das Hotel erreichten.
Unmittelbar vor dem St. Regis schlug die Stimmung um. Vier Jeeps und ein Dutzend Soldaten bildeten eine behelfsmäßige Sperre, die die Auffahrt blockierte. Als das Taxi anhielt, trat ein junger Offizier vor und klopfte hart an Wells’ Fenster.
»Pass«, sagte er. Der Pass, der zur Ausstellung eines Express-Visums per Kurier an das chinesische Konsulat in San Francisco geschickt worden war, identifizierte Wells als James Wilson, einen siebenunddreißigjährigen Mann aus Palo Alto. Wenn ihn jemand fragte, war Wilson Gründer von Prunetime. com, einem Internet-Unternehmen, das sich auf Software für Kleinbetriebe spezialisiert hatte. Das Unternehmen gab es tatsächlich, zumindest auf dem Papier – es war nur eine von Dutzenden Geisterfirmen, die die Agency im Lauf der Jahre errichtet hatte. Prunetime besaß ein Bankkonto, eine Kreditnehmerauskunft von Dun & Bradstreet, eine Eintragung in das Handelsregister von Kalifornien, und sogar ein Büro in San Francisco. Auch Wilson war echt. Abgesehen von seinem Pass besaß er einen Führerschein des Bundesstaates Kalifornien, eine funktionierende Sozialversicherungsnummer und eine Brieftasche voll von Kreditkarten.
Selbstverständlich konnten all diese Berichte nicht die einzig wichtige Frage beantworten: Warum Wells so versessen darauf war, China gerade zu einem Zeitpunkt einen Besuch abzustatten, an dem China und die USA einem Krieg nahe waren? Warum hatte er so kurzfristig um ein Visum angesucht? Aber er hatte eine glaubwürdige Tarnung; er nahm an einer dreitägigen Handelsmesse für Software und Internetunternehmen teil. Und trotz der steigenden Spannungen war er kaum der einzige Amerikaner in China.
Die 747, mit der Wells von San Francisco gekommen war, hatte vorwiegend chinesische Passagiere an Bord, aber auch einige Dutzend Amerikaner, die nervös scherzten, dass man hoffentlich mit den Bomben so lange warten werde, bis sie wieder zu Hause seien.
»Pass«, wiederholte der chinesische Offizier. Wells griff in seine Tasche und gab ihm den Pass, den der Offizier gleichgültig
durchblätterte. »Aussteigen.« Während Wells aus dem Taxi stieg, verschwand der Offizier mit dem Pass in der Hand in einem fensterlosen schwarzen Van, der hinter den Jeeps stand. Wells lehnte sich gegen das Taxi und wartete. Einige Minuten später trat ein älterer Offizier in säuberlich
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