John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
etwa im Baugewerbe oder als einfacher Arbeiter, musste Jordan mit älteren und kräftigeren Männern wetteifern. Der Cop, der ihn aufgejagt hatte, hatte recht. In Guangzhou gab es bereits zu viele Zuwanderer.
Deshalb schloss sich Jordan dem endlosen Strom von Arbeitern an, die zwischen Baustellen und heruntergekommenen Fabriken hin- und hertrotteten und für wenige Yuan pro Tag ihre Arbeit anboten. An manchen Tagen fand er Arbeit, und in jenen Nächten schlief er mit vollem Magen ein. Aber selbst in den letzten Wochen waren die Jobs seltener und die Menschenmengen vor den Fabriken größer geworden. In der letzten Woche hatte er nur dreimal gearbeitet. Er hatte sein Geld so vorsichtig wie möglich ausgegeben und sich seit Monaten nicht einmal mehr eine Flasche Cola gekauft, sein absolutes Lieblingsgetränk. Dennoch war er bei
seinen letzten zwanzig Yuan angelangt – das waren weniger als drei Dollar -, die er in der Krempe der Bulls-Mütze verborgen hatte. Diese beiden zerknitterten Zehn-Yuan-Scheine wollte er nicht mehr ausgeben, sodass er nicht vollkommen blank dastand. So bewahrte er sie auf, obwohl ihm der Hunger beinahe die Besinnung raubte und er in seinem Kopf die Stimme seines Vaters hörte, der ihm auftrug, etwas zu essen.
Vielleicht gelang es ihm morgen, in einem Restaurant den Job des Tellerwäschers zu bekommen im Austausch für übrig gebliebenes Gemüse oder einen Tag alten Fisch. Ja, morgen würde er es in den Restaurants versuchen. Er schloss die Augen und dachte an dampfend heiße Suppe mit Klößchen, wie sie seine Mutter in den guten Jahren gekocht hatte. Nach einem weiteren Schluck Red Star fiel er in Schlaf.
Als er die Augen wieder öffnete, sah er zwei Männer, die ihn neugierig anstarrten. Hastig stemmte er sich hoch, wobei er den Rücken stets mit dem Pfeiler deckte. In seinem Rucksack hatte er ein Messer, ein billiges Springmesser, das einst seinem Vater gehört hatte.
Aber diese Männer wirkten nicht bedrohlich. Sie waren älter als er und sahen abgekämpft aus. Der eine der beiden war der dünnste Mann, den Jordan je gesehen hatte. Der andere war fett und hielt eine Flasche Red Star in der Hand. Während Jordan ihn betrachtete, setzte er sich langsam nieder. Er wusste nicht, ob er sich freiwillig gesetzt hatte oder ob ihm das Stehen einfach zu mühsam geworden war.
»Du hast also das Hotel Guangzhou gefunden«, sagte der dünne Mann lachend. Aus dem rasselnden Lachen wurde ein abgehackter Husten, der seinen Körper durchschüttelte. Jordans Mutter hatte wenige Monate vor ihrem Tod so gehustet.
Als der Husten verstummte, zog der Mann ein zerdrücktes Päckchen Zigaretten aus der Tasche und schob sich eine in den Mund. »Willst du auch eine Zigarette, Junge?«
»Ich rauche nicht.«
»Du kannst ruhig anfangen. Dadurch stirbst du schneller und musst weniger lange leiden.« Der Mann warf ihm lachend das Päckchen und das Feuerzeug zu. Jordan sah auf die Zigaretten hinab. Basketballer rauchten gewiss nicht, dachte er.
»Probier eine«, sagte der Mann. »Dann spürst du den Hunger weniger.«
Bei diesen Worten steckte sich Jordan die Zigarette zwischen die Lippen und zündete sie mit zitternder Hand an. Als der beißende Rauch seinen Mund füllte, hustete er.
»Langsam, Junge. Am Anfang nur ein wenig.«
Jordan machte einen kleinen Zug und atmete den Rauch in die Lungen ein. Plötzlich erwachte sein Gehirn zum Leben. Auch wenn das Gefühl nicht wirklich angenehm war, hatte er sich seit Wochen nicht mehr so wach gefühlt. Er nahm einen größeren Zug.
»Nicht so viel, Junge, du wirst es bereuen.«
Zu spät. Übelkeit stieg in ihm hoch und er sank gegen den Pfeiler. Aber er hielt die Zigarette fest, und als die Übelkeit vorüber war, nahm er einen weiteren, vorsichtigeren Zug. Diesmal ging es besser. Der Mann hatte recht. Sein Hungergefühl war weg. »Es funktioniert.«
Der dünne Mann rieb sich die Hände. »Yu, ich habe ihn an der Angel. Meine gute Tat für den heutigen Tag.« Er lachte sein grässliches abgehacktes Lachen. Einen Augenblick später fiel Yu betrunken kichernd ein. Es war ein hohes Kichern, das gar nicht zu seinem umfangreichen Körper passte.
Als sich der dünne Mann neben ihm niederließ, zuckte
Jordan zurück. »Keine Angst«, sagte der Mann. »Ich bin keiner von denen. Mein Name ist Song. Wie heißt du?«
»Jiang«, sagte Jordan.
»Woher kommst du, Jiang?«
»Aus der Provinz Sichuan. Ich bin hierhergekommen, um zu arbeiten.«
»Selbstverständlich. Wenn du
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