John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
Familie genug Geld für einen Fernsehapparat und einen VCD-Player – die billige chinesische Version eines DVD-Players. Auch Jordans Vater mochte Basketball.
Gemeinsam hatten sie die Highlights der NBA angesehen, die man auf Videodisk kopiert und für zwei Yuan – kaum einen Vierteldollar – auf dem Markt in Hanyuan verkauft hatte.
In seinem Herzen wusste Jordan, dass er kein großer Spieler war. Er war zwar stark, aber mit gerade einmal einem Meter zweiundfünfzig klein. Außerdem hatte er mit sieben Jahren seinen linken kleinen Finger und Ringfinger in den Speichen des Fahrrades seines Vaters verloren. Und obwohl er nie in der NBA spielen würde, der National Basketball Association – schon der Gedanke an diese Worte jagte ihm einen Schauer über den Rücken, vielleicht kam das aber auch vom Regen, oder ihm wurde gerade von dem Red Star übel -, liebte er das Spiel.
Die Amerikaner glaubten, die Chinesen liebten Basketball, weil sie eifersüchtig seien auf die USA, dachte Jordan. Aber er wollte kein Amerikaner sein. Er konnte sich nicht einmal vorstellen, wie es war, Amerikaner zu sein. Andere amerikanische Sportarten waren ihm egal. Aber der Schwung des Basketballspiels, diese Mischung aus Eleganz und Kraft im Spiel, berührte ihn auf natürliche Weise.
Jordan griff in seinen Rucksack und zog die Bulls-Mütze hervor. Während er über das Logo strich, verzog er das Gesicht zu einem echten Lächeln. Selbst jetzt konnte er sehen, wie sein Namensvetter hochsprang und den Ball mit einem Dunk in den Korb stopfte.
Jordan war aus Chenhe, einem Dorf in der Provinz Sichuan, nach Guangzhou gekommen. Sein Vater Ziyang war vor drei Jahren an AIDS gestorben, nachdem er sich an einer verunreinigten Nadel mit HIV angesteckt hatte. Er hatte sich infiziert, als er Plasma verkaufte, um Geld für Jordans Schulbeitrag zu bekommen. Weil die Plasmastationen ihre
Kosten gering halten wollten, verwendeten sie die Nadeln mehrmals, mit dem grauenvollen Nebeneffekt, dass sich das Virus weiterverbreitete. Ganze Dörfer wurden infiziert, ehe Peking diese Praxis per Gesetz verbot.
Nachdem Ziyang krank geworden war, übernahm Jordan den Platz seines Vaters auf den Feldern. Die Schule konnte er sich ohnehin nicht mehr leisten. »Ohne Geld kannst du kein Wunder erwarten«, sagte ihm seine Mutter. Jordan hatte sieben Jahre Schulunterricht bekommen. Das genügte seiner Meinung nach. Immerhin konnte er addieren, subtrahieren, multiplizieren und dividieren. Er las halbwegs gut, auch wenn ihn die komplizierten Schriftbilder verwirrten. Zwei Jahre lang hatten sich seine Mutter und er durchgeschlagen.
Dann wurde sie krank, verlor an Gewicht und hustete krampfartig Klumpen von Speichel und Blut. Jordan brachte sie in das Krankenhaus in Hanyuan. Die dortigen Ärzte untersuchten sie und erklärten, dass sie nichts für sie tun könnten, selbst wenn sie die Behandlung bezahlen könnte. Sie starb ein paar Monate später und ließ Jordan allein zurück. Seine engsten Verwandten waren seine Cousins zweiten Grades, die in einem Dorf nur einige Kilometer entfernt wohnten. Aber sie erklärten, dass sie nicht helfen können.
Er kratzte ein paar Yuan zusammen, indem er ihre Kleidung und den kleinen Fernsehapparat verkaufte, und machte sich auf den Weg nach Guangzhou, dem Zentrum des chinesischen Produktionswunders. Damals war er gerade sechzehn Jahre alt geworden. Jeder wusste, dass es in Guangzhou und Shenzen – den boomenden Zwillingsstädten in der Provinz Guangdong – Arbeit gab. Jungs, die nicht älter waren als Jordan, waren mit Motorrädern und Computern aus Guangzhou zurückgekommen. Einige hatten für
ihre Familien sogar ein Haus gebaut. Auch er würde einen Job finden.
Aber er fand keinen.
Jordan wusste nicht, dass China das Opfer seines eigenen Erfolgs geworden war. Und er hätte es vermutlich auch nicht verstanden. Die Fabriken, die Spielwaren, Schuhe und Billigmöbel hergestellt hatten, alles Produkte, die wenig Fachkenntnis voraussetzten und Millionen von Migranten wie Jordan Jobs gebracht hatten, wanderten nun selbst in andere asiatische Länder ab. In Indonesien und Vietnam war das Land billiger, die Baukosten geringer und die Arbeiter ebenso fleißig. Bei hochwertigeren Produkten wie Laptops, Fernsehgeräten und Autos verzeichnete China immer noch Wachstum. Aber keine Chipfabrik würde einen sechzehnjährigen Jungen mit acht Fingern und sieben Jahren Schulbildung einstellen. Um die Jobs, die weniger Qualifikationen erforderten, wie
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