John Wells Bd. 2 - Netzwerk des Todes
sagte Wen etwas auf Chinesisch, das eine nicht sichtbare Stimme übersetzte – »auf meinem Radarschirm. Er arbeitete in der Nachrichtenabteilung, wie die Amerikaner sagen.«
»In der Nachrichtenbeschaffung.«
»Ja. Bei den Analytikern. Er übersetzte chinesische Zeitungen und ähnliche Dinge. Er war nicht sehr weit oben.«
»Was ist mit dem anderen Agenten?«
»Er war in der anderen Abteilung. In der Operationsleitung.«
»War er auch in einer niedrigen Position?«
»Keineswegs.« Wie Exley bemerkte, richtete sich Wen in seinem Stuhl auf, während er dies sagte. Auch wenn er jetzt China verriet, war er unbewusst immer noch stolz darauf, dass es seinem Nachrichtendienst gelungen war, Langley zu infiltrierten. »Er hatte Zugang zu vielen Operationen. Nicht nur in China. Überall in Asien.«
»Wie lange hat er für Sie gearbeitet?«
»Mehrere Jahre.«
»Haben Sie ihn rekrutiert?«
»Ich bin ihm nie begegnet.«
»Lassen Sie mich die Frage anders stellen. Hat ihn der Nachrichtendienst der chinesischen Armee rekrutiert, oder ist er auf Sie zugekommen?«
»Ah. Nein, er ist an uns herangetreten. Er ist weiß. Wir bevorzugen Chinesischstämmige.«
Exley war wie versteinert. Schon bald würde es Verhaftungen geben, einen Kriminalfall, eine Bestandsaufnahme aller Geheimnisse, die dieser Maulwurf verraten hatte, und aller Leben, die er zerstört hatte. Aber vorerst hatten sie nur dieses Video als erste Schneeflocke in einem Blizzard. In diesem Büro offenbarte sich die Geschichte.
»Wissen Sie, wie er an Sie herangetreten ist?«
»Leider nein. Aber ich bin sicher, dass wir ihm anfangs nicht vertraut haben.«
»Weil er weiß war?«
»Und weil er zu uns gekommen ist. Wir haben nicht verstanden, warum er das getan hat.«
»Aber Sie haben es erfahren?«
Wen lächelte. »Er wollte Geld. Viel Geld.«
»Und das haben Sie ihm gegeben.«
»Seine Informationen waren wertvoll.«
»Sehr wertvoll?«
»Dafür hätte er das Zehnfache verlangen können.«
Wieder hielt Tyson die DVD an.
»Anhand von dem, was Wen als Nächstes sagt, scheint es sicher zu sein, dass unser gesamtes China-Netzwerk aufgeflogen ist. Schon vor Jahren. Seit 2004 haben wir fünf Agenten verloren. Das erklärt warum. Und jene, die immer noch im Einsatz sind, wurden vermutlich von den Chinesen als
Doppelagenten angeworben und versorgen uns mit Desinformation.«
»Das ist so schlimm wie Ames«, sagte Exley.
»Noch schlimmer«, gab Shafer zurück. »Die Sowjets standen schon kurz vor dem Ende, als uns Ames verriet. Auch wenn seinetwegen ein paar Menschen getötet wurden, hat er den Kalten Krieg nicht verändert. Aber dies hier …«
Shafer brach ab. Er brauchte auch nicht mehr zu sagen, dachte Exley. Der Kampf um die Vorherrschaft zwischen den USA und China hatte eben erst begonnen. Wer auch immer dieser Maulwurf innerhalb der CIA war, hatte China einen ungeheuren Vorteil verschafft. Sein Verrat hatte ein Fenster zu den geheimsten amerikanischen Nachrichtenund Militärprogrammen geöffnet und gleichzeitig China die Möglichkeit gegeben, seine zu verbergen.
»Wie viele Agenten haben wir in China?«, fragte Exley.
»Auch vor dieser Sache waren wir überaus mager bestückt. Ein halbes Dutzend Offiziere der Volksbefreiungsarmee, ein paar Politiker der mittleren Ebene. Aber keine wirklich hochrangigen Leute. Mit einer Ausnahme. Vielleicht.«
»Vielleicht?«, hakte Shafer nach. »Darf ich fragen, worüber Sie sprechen?«
Tyson sah zu Shafer hinüber. Er schien seine nächsten Worte sorgfältig zu wählen. Vielleicht war sein Zögern aber auch nur Schauspielerei, wie alles andere, was er tat, dachte Exley.
»Ich habe schon zu viel gesagt. Das Gebrabbel eines alten Mannes.«
Exley sah den Pitbull in Tysons Bassetgesicht und entschloss sich, das Thema fallen zu lassen. Aber was er gesagt
hatte, ergab keinen Sinn. Warum sollte ein Agent entkommen sein, wenn der Maulwurf alle anderen preisgegeben hatte?
»George, ich muss noch einmal fragen«, sagte Shafer. »Woher wissen wir, dass uns dieser feine Gentleman nicht an der Nase herumführt?«
»Hören Sie zu, dann erfahren Sie es, Ellis.« Tyson ließ die DVD erneut weiterlaufen.
»Wie viel haben Sie Ihrem Spion in der CIA bezahlt?«, fragte die Engländerin.
»Ich weiß es nicht genau, aber Millionen.«
»Was hat er Ihnen dafür mitgeteilt?«
»Alles, was die Amerikaner in China taten. Wenn sie jemanden rekrutierten, wenn sie eine Operation planten, all das fanden wir
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