Joli Rouge (German Edition)
öffnete geräuschlos die
Tür, glitt hinein und bewegte sich zielsicher zwischen den
spärlichen Möbeln. Innerhalb kurzer Zeit brannten
Petroleumlampen in dem schmalen Raum und machten den Blick
frei auf verstreut umherliegende Kleider, prachtvolle
Spiegel, Haarkämme, bunte Bänder und Fläschchen mit
wohlriechendem Inhalt. Jacquotte beobachtete ihre Freundin,
die sorgsam die Fenster verhängte und das Schloss vorlegte,
bevor sie die Arme um sie legte.
»
Oiá,
Licht meiner Augen«, gurrte sie mit ihrer
wohlklingenden Stimme und hielt Jacquotte eine Armlänge von
sich entfernt, um sie zu mustern. »Du siehst verändert aus.
Welches Glück ist dir widerfahren?«, fragte sie sofort und
entblößte ihre Zähne.
Jacquotte lächelte. »Vor dir ist kein Geheimnis sicher,
Fayola.«
»Du gehst fort«, stellte die dunkelhäutige Frau fest.
»Dein Plan ist aufgegangen.«
Jacquotte schnalzte mit der Zunge. »Aye! Ich habe mein
Schiff. Die Zeiten unter L’Olonnais‘ Kommando sind endlich
vorbei. Ab sofort wird er mein Schicksal nicht mehr
beeinflussen.«
»Sträube dich niemals gegen dein o
rí
!« Fayolas Augen
umwölkten sich, und ihre Worte klangen, als würden sie von
den Wänden zurückgeworfen: »Es ist noch nicht vorüber.«
»Hör auf, Freundin! Du klingst wie die alten
Sklavenweiblein, die einem die Zukunft prophezeien.«
Fayola richtete sich auf. »Bin ich etwas anderes als das?«
Sie deutete unwirsch auf ihren gebrandmarkten Hals. »Ich
erfülle mein
orí
und diene den Männern. Doch wenn du es
zulässt, dann offenbare ich dir Dinge über deine Zukunft.«
Jacquotte zögerte und die Freundin merkte es sofort.
»Du zeigst Furcht. Ich glaube, dass du noch nicht bereit
bist, dich deiner Zukunft zu stellen.«
»Flibustier denken nicht an die Zukunft. Sie denken einzig
an den Tag, der vor ihnen liegt.«
Fayola lächelte. »Weiß Pierre, dass du fortgehst?«, wollte
sie mit unschuldiger Miene wissen.
Jacquotte machte eine wegwerfende Handbewegung. »Er ist
nicht von Bedeutung.«
»Ich glaube dir nicht.«
Jacquotte erwiderte den wissenden Blick. Zu
unterschiedlich war ihre Herkunft, zu andersartig ihre
Denkweise und doch hatten sie sich vom ersten Augenblick an
verbunden gefühlt. Sie wollten beide in der Welt der Männer
überleben. Jede auf ihre Art.
»Nun gut«, gab Jacquotte nach. »Was willst du von mir?«
Fayolas Gesicht hellte sich auf. »Stelle dich dem Orakel«,
wies sie ihre Freundin an, und Jacquotte nickte ergeben.
Das Klacken der braunen Nüsse, die Fayola
obì àbàtà
nannte, erinnerte sie an jenen Tag vor etlichen Jahren, als
sie das Orakel zum ersten Mal befragt hatte. Damals war sie
kämpferisch gewesen und hatte mit jeder Faser ihres Körpers
danach gelechzt, sich bei dem Überfall auf San Jago
Caballero zu beweisen. Vieles hatte sich seitdem verändert.
Inzwischen war sie nicht mehr draufgängerisch, sondern
einzig von dem Wunsch beseelt, endlich ihren Platz auf den
Weiten des Meeres zu finden.
Sie beobachtete Fayolas Gestik, hörte das besänftigende
Gemurmel ihrer Stimme und das Klicken der Nüsse, als sie sie
mit stetigem Rhythmus in ihren Händen schüttelte. Erst als
Fayola sie ansah, formulierte Jacquotte die erste Frage:
»Wird Manuel für den Rest seines Lebens gut versorgt sein?«
Fayola warf die Nüsse, und Jacquotte verfolgte ihren Tanz
über den gestampften Boden. Mit schimmernden Schalen kamen
sie endlich zur Ruhe und Fayola rief: »
Ejife
! Das ist ein
Ja.«
Jacquotte atmete erleichtert durch. Fayola klaubte die
Nüsse auf und begann erneut, sie zu schütteln.
»Wird meine Mannschaft mich je als Kapitän absetzen?«,
stellte Jacquotte ihre nächste Frage und hörte die Nüsse zu
Boden fallen.
»
Oyeku
!«, flüsterte Fayola. »Die Antwort auf deine Frage
ist Nein!«
»Gut.« Jacquotte lächelte. „Dann sag mir jetzt, ob ich
stets mit günstigen Winden segeln werde.«
Fayola hob ärgerlich ihre Augenbrauen, murmelte etwas in
einer fremden Sprache und ließ die Nüsse durch die Luft
fliegen.
»
Ejife
!«, kam die Antwort.
Als sie aufsah, richteten sich ihre Augen anklagend auf
Jacquotte.
»Deine Fragen waren schwach. Wo ist dein Mut hin,
Freundin? Verspottest du etwa dein eigenes Schicksal?«
»Hast du nicht selbst gesagt, man solle sich niemals gegen
sein
orí
sträuben?« Jacquotte sah sie an. »Was mir bestimmt
ist, wird geschehen, aber ich bevorzuge, es nicht zu wissen.
Du hast mir bereits einmal
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