Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
alles kann zur Waffe werden, wenn es in die falschen Hände gerät, Jonathan. Das Herz ist eine Leihgabe, die wir vor sehr langer Zeit bekommen haben. Es sollte ein Segen sein, aber es wurde zu unserem Fluch. Bitte lass die Fragerei. Ich werde dir alles erzählen. Zu einem späteren Zeitpunkt.«
Jonathan starrte aus dem Fenster. »Und was jetzt?«
»Ich bringe dich zu Cassius. Dort bist du vorerst sicher.«
»Zu Cassius? Dem verrückten Onkel Cassius?«
»Er ist immerhin mein Bruder.«
»Er hat nicht alle Tassen im Schrank, das hast du selbst gesagt! Außerdem wohnt er in diesem Kuhkaff am Ende der Welt … wie hieß das doch gleich? Bärenstein?«
Cornelius seufzte. »Bärenfels!«
»Gibt’s da überhaupt fließendes Wasser? Strom? Internet? Handyempfang?«
»Es ist nicht unbedingt der Nabel der Welt, aber ich habe dort meine Kindheit verbracht. Du wirst es sicher ein paar Tage dort aushalten. Vielleicht findest du ja sogar neue Freunde.«
»Ja, klar«, erwiderte Jonathan trotzig. »Mit denen kann ich mich dann über die neuesten Melkmaschinen unterhalten.«
»Ich hab mir meinen Sommer auch anders vorgestellt!«, gab Cornelius gereizt zurück. »Wichtig ist im Augenblick, dass du in Sicherheit bist. Zumindest solange ich weg bin. Bärenfels war vor vielen Jahren einmal die Heimat unserer Familie. Es ist weit genug weg von der Stadt und in der Nähe meines Bruders. Bei ihm bist du in Sicherheit.«
»Aber ich will nicht in diesem Kaff versauern! Ich will dir helfen!«, rief Jonathan wütend.
Sein Vater schüttelte den Kopf.
»Und was ist, wenn du nicht zurückkommst?«
Cornelius erschrak, als er das hörte. Er hielt den Wagen an und packte Jonathan fest an der Schulter.
»Hör mir jetzt gut zu, Jonathan. Ich komme zurück. Und ich bringe deine Mutter mit! Dieser Albtraum wird bald vorbei sein, und dann werden wir wieder leben wie eine ganz normale Familie. Darauf gebe ich dir mein Wort.«
Jonathan kämpfte mit den Tränen. »Du hast mich dreizehn Jahre lang belogen. Warum soll ich dir jetzt glauben?«
Er wusste, dass er seinem Vater sehr wehtat, aber er konnte seine Wut nicht bezwingen. Er wollte, dass Cornelius spürte, wie ihm zumute war. Nie zuvor hatte er sich so allein gefühlt. Verstohlen wischte er sich eine Träne von der Wange.
Cornelius fasste einen Entschluss. »Ich möchte dir etwas zeigen«, sagte er.
Er trug zwei Ringe an der rechten Hand. Der eine, schlicht und golden, war sein Ehering. Der zweite – dessen Existenz Jonathan nie ganz verstanden hatte, war doch sein Vater nicht eben ein Freund von Schmuck – bestand aus einem Metall, das die Farbe von grauem Kupfer hatte und in unzählige winzige Glieder zerteilt war. Er zog ihn ab und legte ihn auf seine Handfläche.
»Was du jetzt siehst, muss ein Geheimnis zwischen uns bleiben! Und du musst mir versprechen, keine Fragen zu stellen. Versprichst du es?«
Jonathan nickte.
Cornelius führte die Hand mit dem Ring dicht an seinen Mund heran. Seine Lippen bewegten sich, als ob er etwas flüsterte, doch war kein Laut zu hören. Seltsamer bläulicher Schimmer trat zwischen den Gliedern des Rings hervor, dann öffnete er sich.
Cornelius schien selbst überrascht, dass es funktionierte. Seine Augen leuchteten, und er maß Jonathan mit einem Ausdruck von Stolz.
Jonathan zuckte vor dem Ring zurück. Sein Vater nahm seine Hand und führte sie vorsichtig wieder an das schimmernde Schmuckstück heran.
»Hab keine Angst«, sagte er leise.
Vor Jonathans erstaunten Augen erwachte der Ring zum Leben. Er streckte sich, wie aus einem langen Schlaf erwacht, und kroch auf ihn zu. Er wollte seine Hand zurückziehen, besann sich aber auf die Worte seines Vaters und blieb tapfer. Der Ring glitt wie eine Schlange über Cornelius’ Hand zu ihm herüber. Ekel keimte in ihm auf. Das Metall fühlte sich kalt und rau an, wie ein stählernes Reptil.
»Es wählt seine Form selbst«, erklärte Cornelius. »Wenn es seinen Platz gefunden hat, wird es kein Werkzeug je wieder von dir trennen können.«
»Hast du mit ihm gesprochen?«
»Ich habe es gebeten, auf meinen Sohn aufzupassen. Es hat mich gehört und mir die Bitte gewährt …«
»Aber wie?«
»Uralte Handwerkskunst, die ich genauso wenig verstehe wie du. Aber du hast versprochen, keine Fragen zu stellen.«
Jonathan schwieg. Der Ring hatte seine Glieder gestreckt und seine Länge vervielfacht. Er schmiegte sich an sein Handgelenk, wo er in anmutiger Form zu einem Armreif erstarrte. Jonathan
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