Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
bewegte seinen Arm hin und her, um zu sehen, ob er ihn abschütteln konnte, doch er bewegte sich keinen Zentimeter. Er saß fest wie angegossen.
»Kein Werkzeug kann ihn zerstören?«, fragte er ungläubig.
Cornelius lächelte. »Kein Hammer, keine Zange, kein Schweißgerät. Es gibt nur sehr, sehr wenige Exemplare davon. Es ist unser Zeichen. Wir nennen es das ›Eyn‹. Wenn du jemandem begegnest, der Schmuck wie diesen trägt, dann kannst du ihm bedingungslos vertrauen. Mein Großvater hat dieses Stück vor mir getragen. Jetzt bist du an der Reihe.«
»Soll das heißen, du willst ihn mir schenken?«
Cornelius lächelte. »Man kann das Eyn nicht verschenken. Es wählt selbst, wer es tragen darf. Vorerst möchte ich, dass du darauf aufpasst. Ich werde bald zurück sein, dann möchte ich es wiederhaben. Meinst du, du kriegst das hin?«
Jonathan betrachtete das absonderliche Schmuckstück, das sich an seinen Arm schmiegte. Das Metall war stumpf und durchwoben von filigranen Linien. Es fühlte sich an wie ein Teil von ihm. Niemand, auch nicht der begnadetste Goldschmied, vermochte so etwas zu erschaffen. Es war gewiss unendlich wertvoll, und er konnte spüren, welche Bedeutung es für seinen Vater hatte. Dass er es ihm überließ, war weit mehr als nur ein Vertrauensbeweis. Jonathan war stolz und zugleich verunsichert. Er ließ die Schultern sinken.
»Nimm es wieder«, sagte er. »Ich kann nicht darauf aufpassen. Ich schaff das nicht. Ich bring ja nicht mal eine anständige Mathenote zustande.«
Sein Vater nahm seine Hand und hielt sie fest.
»Du hattest keine Angst, Riot die Stirn zu bieten. Du bist viel mutiger, als ich es jemals war. Außerdem bist du mein Sohn, und ich vertraue dir.«
Jonathan nahm seinen Vater in die Arme. Cornelius hielt ihn fest und drückte ihn an sich. Für einen Augenblick wurde seine Stimme brüchig.
»Ich kann dir nicht sagen, wohin ich gehe oder wann ich zurückkomme. Aber ich komme zurück. In spätestens drei Tagen bin ich wieder da. Und dann wird es keine Geheimnisse mehr zwischen uns geben. Keine deiner Fragen wird unbeantwortet bleiben.«
»Versprich es!«, sagte Jonathan.
»Ich verspreche es«, sagte Cornelius fest. Er startete den Motor. »Und jetzt lass uns zu deinem verrückten Onkel Cassius fahren. Er wartet schon auf uns.«
Sechstes Kapitel
Der dunkle Fleck
Cassius war das schwarze Schaf der Familie. Wann immer über Cornelius’ großen Bruder gesprochen wurde, hörte Jonathan seltsame Dinge: dass er ein verschrobener Spinner sei, ein Eremit, der die Menschen verachtete und eine seltsame Leidenschaft für alten Kram hegte. Für Jonathan selbst war er ein Mysterium. Er hatte ihn nur ein einziges Mal in seinem Leben gesehen, als er noch sehr klein gewesen war. Cassius war gut zehn Jahre älter als Cornelius und hatte das Gesicht eines raubeinigen Seefahrers, faltig und gegerbt wie altes Leder. Eine Aura des Geheimnisvollen umgab ihn. Es hieß, dass er lange und weit gereist war, um schließlich in der Abgeschiedenheit seines Heimatdorfes sesshaft zu werden.
Seit sie die Tankstelle verlassen hatten, waren mehrere Stunden vergangen. Cornelius folgte einer kurvenreichen Straße auf eine Anhöhe. Das Morgengrauen warf einen verträumten, purpurfarbenen Schimmer auf das hügelige Land. Dann sahen sie Bärenfels. Es lag beschützt zwischen Wäldern in einem malerischen Tal. Ein Fluss teilte es in zwei Hälften. Fachwerkhäuser und mit Kopfsteinen gepflasterte Straßen vollendeten das Bild eines vergessenen Fleckchens, in dem die Zeit stehen geblieben war. Cornelius lächelte versonnen.
»Schön hier, oder?«
Jonathan dachte nur daran, dass er die kommenden Tage, ja vielleicht sogar Wochen hier verbringen musste, und seine Laune sank auf den Nullpunkt. Er war in der Stadt geboren worden, er liebte das pulsierende Leben, den Lärm und das Chaos. Die Vorstellung, auf dem Land zu versauern, war grauenhaft. Wie sollte er Abgeschiedenheit und Stille ertragen, wenn all seine Gedanken bei seiner Mutter waren?
»Wo wohnt Onkel Cassius?«, fragte er ohne echtes Interesse.
»Lass dich überraschen. Wir sind gleich da.«
Die Straße beschrieb eine Kurve und mündete in eine schmale Gasse, die steil bergauf führte. Sie überquerten eine Brücke, die unter der Last des BMW bedenklich zitterte, und fuhren auf ein Anwesen zu, das hinter hohen, steinernen Ringmauern verborgen lag. Jonathans Augen wurden größer.
»Das ist es? Dort oben?«
»Dort oben, exakt.«
Zum ersten Mal,
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