Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
hier draußen, Kleiner?«, fragte Emir.
»Nichts«, log Jonathan. »Wollte mal die Gegend erkunden.«
Er wusste, dass der Junge nur darauf wartete, ihm einen Anlass zur Prügelei zu bieten. Ein Kräftemessen, das Jonathan unweigerlich verlieren würde, denn sein Gegenüber war viel größer und stärker.
»Gib mir einfach mein Fahrrad zurück«, bat er. »Ich will keinen Ärger.«
Emir trat mit dem Fuß gegen die Speichen. »Rad nennst du das? Sieht eher aus wie ein Haufen Schrott.«
Er warf seinen Freunden einen stummen Befehl zu. Sie bildeten einen Kreis, der jede Flucht unmöglich machte. Das Mädchen blieb abseits und warf dem Anführer verächtliche Blicke zu.
Jonathan wusste, dass er keine Chance hatte. Aber er dachte nicht daran, klein beizugeben. Zornig, und selbst ein wenig erstaunt über seinen Mut, blieb er standhaft.
»Gib mir mein Rad!«, sagte er.
»Sonst was?«
Emir wollte ihm einen Hieb in die Magengrube verpassen, doch bevor Jonathan wusste, was er tat, hatte er die entgegenkommende Faust gepackt. Mit spielerischer Leichtigkeit drückte er sie weg. Sein Gegenüber starrte ihn mit einer Mischung aus Überraschung und Abscheu an. Die Schnelligkeit und die Kraft der Bewegung hatte er ebenso wenig erwartet wie Jonathan selbst. Er setzte einen zweiten Schlag nach, doch auch diesen parierte Jonathan ohne Mühe. Die dritte Attacke kam zu schnell und vor allem hinterrücks: Rotwang stellte Jonathan ein Bein, sodass er stolperte und auf den Rücken fiel. Im selben Moment packte Emir ihn und versetzte ihm einen Fausthieb in die Seite, der ihm die Luft zum Atmen raubte.
»Du hältst dich wohl für besonders schlau, Stadtjunge«, zischte er. »Weißt du, wie ich hier genannt werde?«
»Emir«, antwortete Jonathan schwach.
»Und das heißt, dass ich hier die absolute Macht habe. Ich bin der Boss hier. Merk dir das.«
Er gab Jonathan einen weiteren demütigenden Schlag, dann packte er das Rad und warf es ins Wasser. Es verschwand zwischen Algen und Seerosen und hinterließ nur ein paar kümmerliche Luftbläschen.
»Abgang, Leute!«, bellte Emir.
Erst jetzt bemerkte Jonathan die verdatterten Gesichter der anderen. Offenbar geschah es nicht oft, dass jemand ihrem Anführer die Stirn bot. Eliane, die Fee, taxierte ihn mit Blicken, die fast respektvoll waren. Zögerlich folgte sie ihren Freunden, die sich auf ihre Räder und Mofas setzten und davonbrausten. Jonathan blieb zurück und versuchte zu verstehen, was soeben geschehen war. Niemand hatte so eine schnelle und kräftige Reaktion auf Emirs Attacke erwartet, am wenigsten er selbst. Wenn es um Prügel ging, war er meist derjenige, der einstecken musste. Er bemerkte, dass das Eyn warm geworden war, und krempelte seinen Ärmel hoch. Es schimmerte in sanftem blauem Licht, das langsam wieder erlosch, wie bei geschmolzenem Eisen, das erkaltete.
Ich habe es gebeten, auf meinen Sohn aufzupassen. Es hat mich gehört und mir die Bitte gewährt …
Der Armreif hatte ihn vor Schlimmerem bewahrt, er hatte ihn beschützt, so wie Cornelius es gewünscht hatte.
»Danke«, sagte Jonathan zu dem kleinen Wunderding. »Jetzt musst du nur noch dafür sorgen, dass ich keinen Ärger mit Onkel Cassius bekomme.«
So weit würden auch die Kräfte des Eyn nicht reichen, das war ihm klar. Seufzend schlüpfte er aus seiner Kleidung und stieg in das kalte Seewasser, um sein Rad zu bergen – oder das, was noch davon übrig war.
Achtes Kapitel
Der Mann mit dem Spazierstock
Es war bereits dunkel, als Jonathan in die Burg zurückkehrte. Er gab ein Bild des Jammers ab, verklebt mit Schlamm und Schmieröl. Die Kette seines Rads war herausgesprungen und hatte sich auch mit viel Fingerspitzengefühl und gutem Zureden nicht mehr einbauen lassen. Er hatte den Heimweg also zu Fuß angetreten und kehrte erst in tiefster Dunkelheit zurück. Cassius erwartete ihn am Küchentisch mit verschränkten Armen und einer Miene, die noch finsterer war als die Nacht vor der Tür. Jonathans kümmerlichem Zustand schenkte er keine Beachtung, und als er sprach, brachte seine Stimme Felsen zum Erzittern.
»Setz dich!«
Jonathan nahm Platz.
»Du hast dein Versprechen gebrochen«, sagte sein Onkel.
»Ja.«
»Dann sieh mich an. Warum hast du das getan?«
»Da waren ein paar Jungs …«, begann Jonathan zögerlich. »Ich wollte abhauen, aber die hatten Motorräder. Sie haben mich verfolgt, bis raus zu den Badeseen. Dann haben sie mein Rad ins Wasser geworfen.«
Die Lüge – oder besser gesagt,
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