Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
die sehr freie Interpretation der Wahrheit – kam ihm plötzlich wie von selbst über die Lippen, und sie schien so durchsichtig, dass er nicht im Traum daran dachte, dass sie funktionieren könnte. Doch das Wunder geschah: Die verhärtete Miene seines Onkels weichte auf, und für einen Moment las Jonathan fast so etwas wie Mitleid in seinem Gesicht.
»Die Blutsbande«, stellte er fest.
Traurig ließ Jonathan den Kopf hängen und gab eine preiswürdige Schauspielleistung zum Besten. »Blutsbande?«
»So nennen sie sich. Ein paar Halbstarke, die nichts als Dummheit in ihren verlausten Schädeln haben. Kinder von Ärzten, Pfarrern und Lehrern. Man sollte doch annehmen, dass da etwas Anständiges dabei ist. Aber nicht bei dieser Brut!« Er warf Jonathan ein sauberes Tuch zu. »Wasch dich, dann essen wir zu Abend.«
»Pferdegulasch?«, fragte Jonathan vorsichtig.
Cassius brummte. »Geh schon!«
Nur mit Mühe konnte sich Jonathan ein Grinsen verbeißen. Nicht allein, dass er die Katastrophe abgewendet hatte, es war ihm auch gelungen, die Situation zu seinem Vorteil zu drehen. Wenn Cassius plötzlich Mitleid hatte, würde er seinen Handlungsspielraum bestimmt erweitern. Und wenn bei seinen Plänen doch etwas schiefging, war die Blutsbande der perfekte Sündenbock. Er hatte endlich freie Bahn!
* * *
Als sich die Stille der Nacht über die Burg gesenkt hatte und sein Onkel zu Bett gegangen war, wagte Jonathan einen zweiten Versuch, das gläserne Messer zu benutzen. Dieses Mal war er deutlich besser vorbereitet. Er hatte eine genaue Karte von Bärenfels und einen groben Anhaltspunkt, wonach er suchen musste. Er setzte sich an den Bettrand und hielt die Klinge über das Papier, dort, wo die östlichen Wälder waren.
»Messer, bring mich bitte zum Haus am Ende der Straße!«
Er ließ es fallen. Es polterte zu Boden wie ein Stein und blieb auf der Seite liegen. Vielleicht hatte er seine Frage falsch formuliert? Er versuchte es ein zweites Mal.
»Führe mich zum Haus am Ende der Straße.«
Wieder knallte die Klinge auf die Dielen und verursachte ein lautes Poltern, ohne dabei stecken zu bleiben. Er fluchte, als ihm bewusst wurde, dass der Lärm seinen Onkel wecken konnte. Zum Glück schien Cassius fest zu schlafen. Vorsichtshalber legte Jonathan ein Stück Stoff unter die Karte. Dann startete er seinen dritten Versuch. Dieses Mal konzentrierte er sich mit aller Macht und schloss die Augen.
»Messer! Ich befehle dir, mir das Haus am Ende der Straße zu zeigen!«
Es polterte zu Boden, immerhin ohne Geräusche zu verursachen. Enttäuscht sank Jonathan auf sein Bett. Was machte er nur falsch? War es die Art, wie er das Messer hielt? Der Mangel an Konzentration? Oder besaßen nur seine Eltern die nötigen Fähigkeiten, um es zu benutzen? Ganz plötzlich kannte er die Antwort. Sie war so einfach, dass es fast lächerlich war. Er hob das Messer auf, wog es kurz in der Hand und sagte mit fester Stimme:
»Führe mich zum Haus meiner Großeltern in den Wäldern östlich von Bärenfels!«
Aufs Geradewohl warf er das Messer Richtung Boden. Allen Gesetzen der Physik spottend fiel es an den Rand der Karte und blieb dort mit einem leisen »Plock!« stecken. Das also war des Rätsels Lösung: Es funktionierte, wenn die Frage nur eine Antwort zuließ. Er zog die Klinge wieder heraus und warf einen Blick auf das Loch, das ihre Spitze in der Karte hinterlassen hatte. Der Ort lag etwa zwei Kilometer weiter östlich der Stelle, an der sich die Straße im Wald verloren hatte. Kein Zeichen der Zivilisation war dort zu erkennen, keine Straße, keine Siedlung. Entweder das Messer hatte sich geirrt oder Großvater Theodor und seine mysteriösen Freunde hatten gründliche Arbeit geleistet, das Haus zu verstecken – sogar vor dem allmächtigen Vermessungsamt. Jonathan war alt genug, um zu wissen, dass nur jemand mit viel Macht und Geld vor den Augen der Regierung unsichtbar werden konnte. Der Gedanke jagte ihm einen Schauer über den Rücken.
Sobald die Sonne aufging, wollte er sich auf den Weg machen.
* * *
Nester aus Nebel glitten über die Seen, sanft und schwerelos wie befreite Träume. Der Morgen war kühl, doch die ersten Sonnenstrahlen spendeten Wärme und versprachen einen heißen Sommertag. Jonathans Handy hatte hier draußen keinen Empfang, konnte ihm aber mit seiner Kompassfunktion gute Dienste tun. Als er den See gefunden hatte, versteckte er sein Rad, schulterte seinen Rucksack und folgte der verlorenen Straße bis zu der
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