Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Langsam sah er klarer: Jede Silbe, die der Fremde sprach, war eine Lüge.
Ein Lächeln überflog die dünnen Lippen des Mannes, als hätte er den Gedanken erraten. Gläsernen Augen blickten auf ihn herab.
»Du willst doch sicher zurück zu deinen Freunden, Jonathan.«
Jonathan nickte nervös.
»Es war überaus interessant, dich kennenzulernen. Komm gut nach Hause.«
»Ja, ähm … Sie auch.«
Unter Aufbringung seines ganzen Willens ging Jonathan langsam seines Weges. Als der Fremde außer Sichtweite war, rannte er, bis schlimmes Seitenstechen ihn zum Anhalten zwang. Schwer atmend stützte er sich auf seine Knie und hörte das Blut in seinen Ohren rauschen. Die Erkenntnis traf ihn mit der Wucht eines Hammerschlags.
Der Fremde hatte seinen Namen genannt.
Für die meisten ist er nur ein freundliches Gesicht, ein netter Nachbar oder ein harmloser Spaziergänger. Aber wir kennen die Wahrheit. Dieses Wesen ist die Essenz der Finsternis in unseren Herzen.
Ein Zittern packte Jonathan, als ihm bewusst wurde, wen er da getroffen hatte. Den Feind seiner Eltern, jenes dunkle Wesen, vor dem sie sich all die Jahre versteckt hatten. Den, den sie den »Weltenwanderer« nannten. Jonathan musste sich setzen, um das Geschehene zu begreifen. Das Böse war offenbar nicht so leicht zu durchschauen wie in seinen Büchern. Es verbarg sich sicher hinter der Maske des Lächelns, hinter freundlichen Worten und schönem Schein. Jonathan hatte geradewegs ins Herz der Finsternis geblickt. Es schüttelte ihn, als ihm bewusst wurde, dass der Fremde ihn hier gefunden hatte, weitab von allen Menschen, die ihn beschützen konnten. Andererseits – wenn der Fremde tatsächlich ein Interesse an ihm hatte, warum ließ er ihn dann unbehelligt laufen? War Jonathan zu unbedeutend in diesem Spiel, oder hatte ihn das Eyn beschützt? Oder war das eine Warnung?
Für einen Augenblick spielte er mit dem Gedanken, alle seine Pläne zu verwerfen und in Cassius’ Burg zurückzukehren, um dort auf seinen Vater zu warten, so wie er es versprochen hatte. Es war der richtige Weg, der Weg der Vernunft.
Und der Weg der Angst.
Nein, er würde sich nicht beugen. Egal was der Weltenwanderer verkörperte, er wollte sich nicht einschüchtern lassen. Immerhin ging es um das Schicksal seiner Mutter. Das Haus musste ganz in der Nähe sein. Er durfte nicht so kurz vor dem Ziel kapitulieren.
Seine Hartnäckigkeit wurde belohnt: Nach kurzer Suche entdeckte er einen Trampelpfad, der versteckt hinter Büschen lag. Hier war schon lange kein Mensch mehr entlanggegangen, denn er war von Farnen und Blaubeersträuchern überwuchert. Noch einmal wurde der Wald dichter und dunkler, als ob die Natur selbst ihn warnen wollte, weiterzugehen. In der Ferne war das Hämmern eines Spechts zu hören, und der Wind ließ die alten Bäume ächzen.
Dann, ganz unvermittelt, war der Wald zu Ende. Staunend trat Jonathan auf eine Lichtung und sah den Himmel. Vor ihm lag eine Allee aus Ahornbäumen. Wie stille Soldaten flankierten sie eine Auffahrt, die schnurgerade zu einem Anwesen führte, das von Mauern und rostigen Zäunen umgeben war. Dort, eingewachsen in einen verwilderten Garten, lag ein Gebäude, mächtig und dunkel wie eine Festung aus Fels, mit spitz zulaufenden Türmen und hohen Fenstern. Jonathan war am Ende und zugleich am Beginn einer neuen Reise, denn er hatte es gefunden: das Haus am Ende der Straße.
Neuntes Kapitel
Das Haus am Ende der Straße
Wie ein riesiger buckliger Fels erhob sich das Haus aus der Lichtung. Jonathan zählte fünf Türme aus schwarzem Stein. Sie waren grob, verwinkelt, unsymmetrisch. Das ganze Gebäude wirkte wie aus einer Felsformation herausgemeißelt. An manchen Stellen war noch ein Schatten der einstigen Pracht zu erahnen, andere waren verwittert und verfallen. Dieses Anwesen war seit vielen Jahrzehnten von keiner Menschenseele mehr betreten worden. Es schien, als ob eine seltsame, furchterregende Energie von ihm ausging.
Jonathan lief durch hohes Gras und ließ seinen Blick über die Fassade gleiten. Sämtliche Zugänge und Fenster der unteren Etagen waren akkurat mit Brettern vernagelt worden. Er versuchte ein paar Bretter zu lösen. Die massiven Zimmermannsnägel bewegten sich keinen Millimeter.
Nichts passte hier zusammen. Diese seltsame Architektur, die verfallene Pracht und ein unsinniger Aufwand, jede Tür fest zu verschließen. Je länger Jonathan auf die blinden Turmfenster starrte, desto stärker wurde sein Eindruck, dass es nicht
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