Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
allein darum ging, dass niemand in das Haus hinein gelangte, sondern auch, dass nichts heraus kam. Das war natürlich Unsinn. Wahrscheinlich war das ganze Anwesen nichts weiter als das Werk eines verrückten Exzentrikers.
Ratlos setzte er sich auf den Rand einer verwitterten Mauer. Grillen zirpten in der Hitze der Nachmittagssonne, und der Wind strich über das hohe Gras. Wenn er dem Geheimnis seiner Familie näher kommen wollte, musste er einen Weg finden, in dieses Haus zu gelangen. Er beschloss, das Grundstück abzusuchen. Ein gutes Stück entfernt von dem Haus, dort wo verfallene Springbrunnen und verwildertes Buschwerk auf vergangene Pracht hindeuteten, stand ein gotisch anmutender achteckiger Turm. Seine Mauern bestanden aus gewöhnlichen Ziegelsteinen. Natürlich war der einzige Zugang fest verschlossen. Jonathan sah zur Spitze empor. Unter dem Dach befanden sich offene Rundbogenfenster. Es konnte sich um einen Glockenturm handeln, doch wofür der in dieser gottverlassenen Einöde gut sein sollte, war ihm ein Rätsel.
Er kehrte zu dem Haus zurück. Unter Gras und Laub entdeckte er eine vernagelte Luke, der die Feuchtigkeit schwer zugesetzt hatte. Er packte einen steinernen Wasserspeier, der vom Dachfirst gestürzt war, und warf ihn mit aller Kraft. Das Holz der Luke zerbarst und wurde mitsamt der entstellten Fratze des steinernen Dämons von einem lichtlosen Schlund verschluckt.
Jonathan zog seine Taschenlampe hervor, legte sich flach an den Rand und leuchtete in die Dunkelheit. Als das Licht auf Grund traf, sah er schwarze Wasserpfützen, aus denen kleine Inseln hervorragten wie gestaltgewordene Finsternis. Die Tiefe des Lochs war schwer abzuschätzen. Vier, vielleicht fünf Meter, vermutete Jonathan. Auf jeden Fall zu tief, um gefahrlos zu springen. Als er aufstehen wollte, hörte er plötzlich Stimmen. Entsetzt hielt er den Atem an.
Die Blutsbande!
Sie waren ihm gefolgt.
Aber wie war das möglich? Natürlich, die Markierungen an den Bäumen, die er mit Kreide hinterlassen hatte! Damit hatte er eine Spur gelegt, so breit wie eine Autobahn. Es war zu spät, sich über seine Dummheit zu ärgern. Jetzt musste er vor allem unentdeckt bleiben. Er robbte durch das hohe Gras davon und versteckte sich hinter einem Mauervorsprung. Als er einen Blick aus der Deckung wagte, sah er Emir mit seiner Bande und Eliane, deren struppiges blondes Haar ungebändigt in alle Himmelsrichtungen abstand. Feixend und Späße treibend schlenderten die fünf um das Haus herum und erkundeten es. Mit einem Stock schlug Emir gegen die felsige Fassade und lachte triumphierend.
»Das würde ich nicht tun, wenn ich du wäre«, flüsterte Jonathan.
»Hey, seht mal, ein Loch im Boden!«, rief Rotwang.
Er hatte die Luke im Boden entdeckt. Das war Jonathans Chance, unerkannt zu verschwinden. Er kroch durch ein Loch im Zaun, bis etwas an seinem Bein zog; seine Hose hatte sich in einer Drahtschlaufe verfangen. Fieberhaft versuchte er, sich loszureißen.
Emir und seine Freunde schlenderten geradewegs auf ihn zu.
»Da ist er«, schrie Rotwang.
Jonathan zerrte, bis sein Hosenbein mit einem hässlichen Geräusch zerriss, sprang auf und rannte Richtung Wald. Emir holte ihn rasch ein und stellte ihm ein Bein, sodass Jonathan der Länge nach auf den Kies fiel. Er wurde auf die Beine gezerrt. Rotwang und ein Junge, den sie »Doppelkorn« nannten, hielten ihn fest.
»Lasst mich los!«, schrie Jonathan.
»Eine große Klappe hat er ja«, grinste Eliane.
Emir rückte seine Kappe zurecht und stellte sich breitbeinig vor Jonathan auf. Zu seiner Überraschung schwang in seiner Stimme so etwas wie Anerkennung mit: »Da hast du echt was entdeckt, Mann! Hier finden uns nicht mal die Bullen.«
»Du solltest das Haus besser in Ruhe lassen!«, rief Jonathan.
Die vier Jungs starrten ihn verdattert an und brachen dann in schallendes Gelächter aus.
»Hast du etwa Angst vor dem bösen, bösen Haus?«, alberte Rotwang.
Doppelkorn wedelte naserümpfend vor seinem Gesicht herum. »Seine Windel ist jedenfalls randvoll.«
Zufrieden verschränkte Emir die Arme vor der Brust. »Jetzt mal raus mit der Sprache, du Klugscheißer: Was ist das für ein Anwesen hier, und wie bist du hierhergekommen?«
Jonathan funkelte Emir zornig an und schwieg. Grinsend riss er ihm den Rucksack vom Rücken.
»Dann hole ich mir die Antworten eben selbst.«
Erschrocken sog Jonathan Luft ein. Im Rucksack befand sich das gläserne Messer! Nicht auszudenken, was geschehen konnte,
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