Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
Stelle, an der sie zwischen Bäumen und Wurzelwerk im Nirgendwo verschwand. Mit Kreide markierte er einen Stamm, um sicherzugehen, dass er den Heimweg wiederfand, dann folgte er dem Pfad nach Osten.
Der Pfad führte steil bergauf, bis der Wald sich lichtete und den Blick auf eine felsige Anhöhe und das darunterliegende Tal frei gab. In der Ferne waren die roten Dächer von Bärenfels zu erkennen. Jonathan wollte seinen Weg fortsetzen, als er über einen knotigen Wurzelstrang stolperte. Sein Fuß knickte um, und mit einem Schrei stürzte er. Sein Knöchel schmerzte so stark, dass ihm für einen kurzen Moment schwarz vor Augen wurde. Furcht überkam ihn bei dem Gedanken, dass er hier draußen ganz allein war.
In diesem Augenblick hörte er die Stimme, die er nie wieder vergessen sollte.
»Du musst vorsichtiger sein, mein Junge.«
Vor ihm stand ein Mann gestützt auf seinen Spazierstock. Seine Hände steckten in weißen Baumwollhandschuhen. Er wirkte nicht wie ein Wanderer, eher wie ein verirrter Geschäftsmann. Mit erhobenen Brauen ging er vor Jonathan in die Knie.
»Das sieht aber nicht gut aus. Darf ich mir das mal genauer ansehen?«
Jonathans Herz klopfte so stark, dass er fürchtete, man könnte es hören. »Sind Sie Arzt?«
Er lächelte. »Sagen wir einfach, ich habe detaillierte Kenntnisse der menschlichen Physiognomie.«
Weglaufen war keine Option, um Hilfe schreien auch nicht. Also hielt Jonathan still und ließ es zu, dass der Fremde seinen Fuß untersuchte. Anders als es die dichten grauen Haare vermuten ließen, war er kein Greis. Sein Gesicht war jung und voller Kraft. Nur die faltigen Hände und seine alten, tief in den Höhlen liegenden Augen ließen erahnen, dass die Zeit seiner Jugend schon weit zurücklag. Wenn er lächelte, verzog er nur die Lippen, der Rest seines Gesichtes zeigte keine Regung.
»Nichts gebrochen oder gedehnt. Halt still.«
Ein stechender Schmerz schoss durch den Fuß, als der Fremde daran zog. Jonathan spürte ein Knacken, dann ließ das Stechen nach.
Der Fremde nickte zufrieden und richtete sich zu seiner imposanten Größe auf. Er reichte Jonathan die Hand. Nach kurzem Zögern griff er zu und ließ sich auf die Beine helfen.
»Wie alt bist du, mein Junge?«
»Dreizehn«, sagte Jonathan. Er belastete seinen Fuß und stellte fest, dass er tatsächlich wieder in Ordnung war. Seltsam, dass der Schmerz so schnell verschwinden konnte. Der Fremde schien Zauberhände zu haben.
»Und du wanderst hier draußen ganz allein durch den Wald? Das ist etwas leichtsinnig, nicht wahr? Wenn man den Geschichten glauben darf, haben sich schon einige Leute hier verlaufen. Hier allein umherzustreifen kann sehr gefährlich werden. Telefone funktionieren nicht, und Wanderer verirren sich nur selten in diese Gegend. Du hättest hier Tage liegen können, ohne dass man dich findet.«
»Dann sollte ich mich wohl bei Ihnen bedanken«, sagte Jonathan. Er wollte am liebsten weg, schnell weg von diesem Mann.
Der Fremde stützte sich auf seinen Stock und sah über das weite Land. »Eine seltsame Gegend. Man könnte fast meinen, dass sie von den Leuten gemieden wird. Was treibt dich so weit in diesen Wald, mein Junge?«
»Ich war mit Freunden unterwegs und … hab mich verlaufen«, log Jonathan.
Sein Gegenüber lächelte begütigend, doch seine Augen blieben kalt wie Eis. »Kommst du aus Bärenfels?«
»Eigentlich wohne ich in der Stadt. Na ja, das heißt, ich habe in der Stadt gewohnt. Mein Vater … musste was erledigen und hat mich bei meinem Onkel abgeliefert.«
Der Mann mit dem Spazierstock hob missbilligend die Brauen. »Dein Vater hat dich allein gelassen? Und deine Mutter?«
»Sie muss … arbeiten.«
»Das ist aber nicht sehr verantwortungsbewusst, nicht wahr? Jungs in diesem Alter stellen eine Menge Unsinn an. Wollten sie dich loswerden, mein Junge? Haben sie dich hier abgestellt wie Ballast?«
Jonathan wusste nicht, was er sagen sollte. Er kannte diesen Gedanken. Mit leisem Schrecken stellte er fest, dass er ihn selbst gehabt hatte. Er sah den Mann mit dem Spazierstock überrascht an.
»Meine Eltern sind nicht so«, sagte er und kämpfte gegen das aufkeimende Unwohlsein in seinem Magen an. Die Saat des Zweifels, die der Fremde gesät hatte, fiel auf fruchtbaren Boden.
»Trotzdem sollten sie dich nicht hier draußen herumspazieren lassen, so ganz allein. Das ist sträflicher Leichtsinn.«
Kälte befiel Jonathan. Zugleich verzog sich der Nebel, der seine Sinne umwölkt hatte.
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