Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
ausgeruht wie lange nicht mehr – und das, obwohl er den ganzen Tag und die ganze Nacht auf den Beinen gewesen war. Er hätte Bäume ausreißen können. Als er in den Spiegel sah, merkte er, dass all die kleinen Kratzer und Wunden verschwunden waren, die er sich bei der Flucht durch den Wald zugezogen hatte. In diesem Augenblick wurde ihm bewusst, dass sein Onkel recht hatte: Von dem Stein ging eine unglaubliche Macht aus. In den falschen Händen konnte er zu einer fürchterlichen Waffe werden.
Auch Cassius’ Wunden waren verschwunden. Prüfend fühlte er den Puls seines Bruders und legte ihm die Hand auf die Stirn. Er nickte zufrieden.
»Cornelius wird wieder gesund«, stellte er fest. »Geh jetzt ins Bett, Jonathan. Wir beide haben morgen viel zu besprechen.«
»Ich bleibe bei ihm!«, widersprach Jonathan.
Cassius taxierte ihn mit forschenden Blicken. Schließlich nickte er. »Wie du meinst. Ruf mich, wenn er wach wird.«
Damit verließ er die Turmkammer. Jonathan setzte sich ans Bett seines Vaters, deckte ihn zu und wachte über seinen Schlaf.
* * *
Er wusste nicht, wie viele Stunden vergangen waren. Durch ein schmales Fenster sah er, wie sich die Sonne über dem Tal erhob. Cassius brachte ihm eine heiße Suppe und etwas Brot. Jonathan aß, obwohl er keinen Hunger hatte. Als es Mittag wurde, ließ die Wirkung des heilenden Wassers langsam nach. Von Müdigkeit übermannt schlief er auf dem Stuhl ein und erwachte erst wieder, als er eine vertraute Stimme hörte.
»Jonathan?«
Erschrocken fuhr er hoch und blickte in die Augen seines Vaters. Cornelius saß vor ihm, noch immer geschwächt, aber wohlauf. Überglücklich fiel Jonathan ihm in die Arme.
»Du hast über meinen Schlaf gewacht.« Liebevoll fuhr er durch sein struppiges Haar.
Jonathan zögerte. »Dann hast du noch nicht mit Cassius geredet?«
»Cassius? Nein, ich habe eben erst die Augen geöffnet. Wie spät ist es? Und wo sind wir?«
»Im Burgturm«, antwortete Jonathan.
Staunend sah Cornelius sich um. »Das Allerheiligste meines großen Bruders. Das ist wirklich ungewöhnlich. Normalerweise lässt er niemanden hier hinein, der alte Kauz.«
»Und dafür gibt es einen guten Grund«, brummte eine Stimme aus dem Schatten. »Hier gibt es einige Dinge, die nicht in fremde Hände gelangen dürfen.«
Als Cornelius sich überrascht umsah, trat Cassius ins Licht. Er schien schon eine ganze Weile dort gestanden zu haben. Sein faltiges Gesicht war von Sorge gezeichnet.
Cornelius räusperte sich verlegen. »Tut mir leid, Cassius. Ich wusste nicht, dass du hier bist.«
»Ich weiß genau, wie ihr hinter meinem Rücken über mich redet. Ich kann gut damit leben, der verrückte alte Cassius zu sein.«
Cornelius wechselte das Thema. »Wie lange habe ich geschlafen?«
Cassius warf ihm ein Bündel frischer Kleidung zu. »Zu lange! Wir haben nicht viel Zeit, also zieh etwas an und komm mit runter. Wir müssen uns vorbereiten.«
»Vorbereiten? Worauf?«
»Dein Sohn hat das Herz des Lazarus gestohlen.«
Alle Farbe wich aus Cornelius’ Gesicht. Er packte Jonathans Hand. »Ist das wahr?«
»Gestohlen? Nein, Thorne hat es mir gegeben …«
Cornelius erhob sich, wütend. »Du warst im Haus? Verdammt, warum hast du das getan? Hat dir Cassius nicht verboten …?«
Mit einer scharfen Bewegung schnitt sein Bruder ihm das Wort ab. »Dafür ist später Zeit! Was geschehen ist, ist geschehen. Jetzt müssen wir ein paar Entscheidungen treffen, und zwar schnell.«
Widerwillig schlüpfte Cornelius in die Kleidung. Es waren offensichtlich Stücke aus dem Fundus seines Bruders, darunter eine dunkle Hose, die ihm zu kurz war, und ein Hemd, das ihm nicht passen wollte. Immer wieder schüttelte er den Kopf. So stolz er eben noch auf Jonathan gewesen war, so enttäuscht war er jetzt. Sie verließen den Bergfried und gingen in die Küche des Herrenhauses, wo Cassius in aller Eile eine Mahlzeit zubereitete: Brot, Speck und gebratene Eier.
»Ihr müsst zu Kräften kommen, also esst!«
Seine Stimme duldete keinen Widerspruch, und so griffen Jonathan und sein Vater zu, auch wenn sich ihr Appetit in Grenzen hielt.
»Was auch geschieht, ich will nicht, dass Jonathan dabei ist!«, sagte Cornelius, während er einen Bissen von dem Brot nahm.
Nein! Dieses Mal würde er sich nicht verscheuchen lassen, das hatte Jonathan sich fest vorgenommen. »Wenn du zurückkehrst, wolltest du alle meine Fragen beantworten!«, erinnerte er seinen Vater. »Das hast du mir
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