Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)
wäre, hätte er mich nie auf eure Spur gebracht. Ach, und noch etwas …«
»Ich weiß. Niemandem davon erzählen.«
»Zu deiner eigenen Sicherheit«, bekräftigte Cassius. »Was heute Nacht geschehen ist, muss ein Geheimnis bleiben. Kann ich darauf vertrauen?«
»Diese Geschichte von sprechenden Löwen und verrückten Wolfsmenschen kauft mir doch sowieso niemand ab!«
Cassius nickte. »Kluges Kind.«
Mit hängenden Schultern stieg Eliane auf ihr Rad. Bevor sie fahren konnte, rief Jonathan ihr noch einmal zu: »Danke.«
Ein Grinsen huschte über ihr Gesicht. »Kein Problem. Wir sehen uns, Blitzbirne.«
Sie trat in die Pedale und fuhr in den Ort hinein, wo sie hinter einer Straßenbiegung verschwand. Jetzt war Jonathan mit seinem Onkel allein. Eine bedrückende Atmosphäre des Schweigens machte sich breit. Er hätte tausend Fragen gehabt, doch Cassius’ Miene war steinern. Er startete den Motor.
»Halt dich fest«, sagte er.
»Was ist mit meinem Rad?«
»Das holen wir später. Wir haben keine Zeit zu verlieren. Da ist jemand, der dich erwartet.«
Dreizehntes Kapitel
Verschlossen im Turm
Cassius fuhr, als ob ihn der Teufel persönlich jagte. Er raste durch die Gassen des Dorfes und schnitt dabei jede Kurve. Jonathan krallte sich mit geschlossenen Augen am Sitz des Motorrads fest. Jede Beschleunigung und jedes Bremsmanöver sorgten dafür, dass sich sein Innerstes zusammenzog. Als sie endlich im Innenhof der Burg angelangt waren, sprach er ein stilles Dankgebet. Cassius bedeutete ihm wortlos, ihm zum Bergfried zu folgen. Er kramte seinen Schlüsselbund hervor und öffnete es mit einem warnenden Blick.
»Nichts anfassen. Und sei vorsichtig, wenn du die Treppen besteigst. Das Geländer ist morsch!«
Er stieß die Tür auf. In Inneren war der Turm völlig leer, zumindest bis einige Meter unters Dach; Wendeltreppen aus Holz führten an den Wänden entlang zu einer Luke, aus der Licht in die Tiefe schien. Das Geländer bestand aus grob zusammengezimmerten Balken und machte tatsächlich keinen sehr stabilen Eindruck.
Endlich fand Jonathan seine Stimme wieder. »Wer erwartet mich da oben?«
»Sieh selbst«, sagte Cassius.
Mit klopfendem Herzen lief Jonathan die Treppen empor und stieß die Tür zum Dachzimmer auf. Es war erstaunlich geräumig. Ein Ofen flackerte, und an den Wänden hingen Waffen, Kunstwerke und Artefakte, die Jonathan nie zuvor gesehen hatte. Er bemerkte Perlen, die schimmerten wie glühende Lava, Helme aus Elfenbein, so groß wie der Schädel eines Bären, Trinkgefäße, die wunderlich geformt waren, gleichsam wie Blütenkelche, und Bruchstücke kunstvoll gearbeiteter Skulpturen, die Wesen zeigten, die in keinem Lexikon zu finden waren. All das machte ihn sprachlos und ließ ihn fast vergessen, weswegen er gekommen war. Dann sah er die Pritsche, die hinter einem Vorhang verborgen lag, und sein Herz setzte für einen Schlag aus.
Dort lag sein Vater.
Cornelius’ rechter Arm war gebrochen, die Beine von blutigen Striemen übersät, das Gesicht fahl und hohlwangig wie bei einem Menschen, der Fürchterliches erfahren hatte. Er schlief, doch es schien kein erholsamer Schlaf zu sein. Fieber schüttelte ihn, Schweiß perlte über die Stirn, und die Lippen zuckten, als ob sie das Unaussprechliche in Worte fassen wollten, das ihm widerfahren war. Trotz des Anblicks war Jonathans erstes Gefühl Erleichterung und Dankbarkeit. Sein Vater war verletzt, aber er lebte.
Cassius trat an das Bett und sah Jonathan ernst an. »Er hat ein paar üble Stichwunden. Sie sind nicht tief, aber ich vermute, dass er von einer vergifteten Klinge verletzt worden ist.«
»Er muss in ein Krankenhaus«, rief Jonathan. Er erschrak, als er seine eigene Stimme hörte, die plötzlich dünner war als Papier.
»Dafür ist keine Zeit.«
»Hat Riot ihm das angetan?«
»Vermutlich. Er kam vor einigen Stunden. Sein Lebenswille hat ihn hierhergeführt, bevor er zusammenbrach. Dieser verdammte Narr.«
Er könnte sterben …
Es war unsagbar schwer, diese Worte auch nur zu denken, geschweige denn, sie auszusprechen. Cassius legte Jonathan die Hand auf die Schulter und nickte ihm auffordernd zu.
»Ein Wunder kann ihn noch retten. Nach allem, was ich eben gesehen habe, vermute ich mal, dass du eines bei dir hast.«
Es dauerte eine Sekunde, bis Jonathan begriff, worauf sich die Anspielung bezog. Er griff in seine Jackentasche und zog das Herz des Lazarus hervor. Cassius’ Augen leuchteten, als er es sah.
»Du hast es
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