Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)

Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition)

Titel: Jonathan Harkan und das Herz des Lazarus (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dirk Ahner
Vom Netzwerk:
Kopf.
    »Liegt mitten in Amerika. Diese Flöte hat meine Mutter von einer alten Indianerin gekauft. Wahrscheinlich eins von diesen Reise-Souvenirs, die sie an Touristen verscherbeln.«
    »Kannst du darauf spielen?«
    »Klar. Soll ich mal?«
    Er wollte zu bedenken geben, dass die Musik wahrscheinlich bis weit über den See hinaus zu hören sein würde und sie an ihre Feinde verraten konnte, schluckte den Einwand aber hinunter. Selbst wenn Riot mit seinem gesamten Heer vor ihm aufmarschieren würde, im Augenblick war es ihm egal. Eliane legte das Mundstück an die Lippen und blies hinein. Ein sanfter bauchiger Ton wehte durch die Nacht und verwob sich mit dem Prasseln des Feuers, dem Rauschen des Wasserfalls und dem Flüstern des Windes. Sie spielte eine traurige Melodie aus einem fremden Land, die Geschichten von mutigen Abenteurern erzählte, von weiten Steppen und Einsamkeit. Als Jonathan über den See blickte und den Wald sah, dessen Silhouette sich wie ein Scherenschnitt vor dem Himmel abzeichnete, hatte er fast das Gefühl, selbst in der Prärie zu sein, umgeben von Wildnis.
    Und plötzlich fielen die Sterne vom Himmel.
    Winzige Lichter, manche schwach wie das Flämmchen einer Kerze, andere strahlend wie Splitter der Sonne, glitten aus der Dunkelheit hervor und schwebten auf sie zu, behutsam, fast zögerlich. Sie lauschten der Musik. Eliane zuckte erschrocken zusammen und vergaß ihre Flöte. Jonathan suchte ihre Hand und hielt sie fest, um ihr zu zeigen, dass sie keine Angst zu haben brauchte. Er wusste, was dieses Schauspiel zu bedeuten hatte, denn in diesem Augenblick kehrten die Worte seines Vaters zu ihm zurück: Sie lieben Geschichten und Musik, und manchmal, wenn sie etwas Wunderbares hören, dann wagen sie sich aus ihrem Versteck und zeigen sich uns Menschen …
    »Spiel weiter«, bat er leise.
    Sie führte die Flöte wieder an den Mund und spielte, auch wenn ihre Finger dieses Mal zitterten. Immer neue Irrlichter gesellten sich zu ihnen, und bald war es taghell um sie herum. Schließlich versiegte Eliane die Luft, und der letzte Ton verklang schief. Sie wagte es nicht, sich zu bewegen.
    »Sind sie das? Die Chimerianer?«, flüsterte sie.
    Jonathan nickte und erhob sich vorsichtig, immer darauf bedacht, die scheuen Besucher nicht zu erschrecken. Die Lichter bewegten sich wie Laub im Wind und hielten respektvoll Abstand. Ein Wispern durchdrang die Stille, zahllose kleine Stimmchen, die wild durcheinandersprachen und doch eine gemeinsame Linie fanden. Im Chor waren sie laut genug, dass man sie hören konnte.
    »Jonathan Harkan …«
    »Sohn des Cornelius Harkan …«
    »Ein mutiges Menschenkind!«
    Eliane wurde noch etwas blasser, so weit das überhaupt möglich war, und verpasste Jonathan einen sanften Hieb mit dem Ellenbogen.
    »Sie sprechen!«, raunte sie ihm zu. »Ich sehe sprechende Lichter. Sag mir, dass ich nicht verrückt bin.«
    »Du bist nicht verrückt«, gab Jonathan zurück. Er hatte keine Spur von Angst, im Gegenteil. Mit einem Lächeln senkte er das Haupt. »Danke, dass ihr gekommen seid.«
    Die Lichter tanzten erfreut und schienen noch ein wenig heller zu strahlen. Die Kleinen unter ihnen fassten Vertrauen und näherten sich seinem Gesicht, bis sie fast seine Nasenspitze berührten.
    »Er bedankt sich!«
    »Ein höfliches Menschenkind.«
    »Ob das Weibchen so ist wie er?«
    Bei dem Wort »Weibchen« schnappte Eliane hörbar nach Luft, ließ aber zu, dass einige der Besucher sich nun auch näher an sie heranwagten. Die Chimerianer schienen besonders fasziniert von ihrem struppigen Haarschopf, der unter ihrer Mütze hervorquoll. Sie tanzten zwischen ihren blonden Strähnen umher und zuckten erst zurück, als sie sie mit der Hand verscheuchte.
    »He, lasst das! Das kitzelt!«
    Auf ihre Reaktion folgte sogleich Protest: »Eigenwillig ist sie!«
    »Stures Menschenweibchen!«
    »Unsere Kinder haben nie jemanden gesehen wie sie …«
    Jonathan bemerkte, dass die kleinen Lichter enttäuscht flackerten, und warf Eliane einen beschwörenden Blick zu. Sie kapitulierte seufzend.
    »Kein Grund, gleich beleidigt zu sein, ihr wild gewordenen Glühwürmchen. Kommt näher. Keine Angst, ich beiße nicht.«
    In einem gemeinsamen Kraftakt zogen ihr die Chimerianer die Mütze vom Kopf und spielten mit ihren Haaren. Nach kurzer Zeit fand auch Eliane Gefallen an diesem Spiel und kicherte, bis Jonathan sich hörbar räusperte. Das Erscheinen der nächtlichen Besucher hatte ihm neue Hoffnung gegeben – und zu einer

Weitere Kostenlose Bücher