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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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Wellington ihm ausgestellt hat. Und das, Sir, ist der Grund, warum die französische Armee in Santarem festsitzt und nicht weiterkommt, während Sie und ich ruhig in unseren Betten in Lissabon schlafen.«
    Kurz darauf verließen sie die Straße und bogen in einen steilen, gewundenen Weg ein, der sie bergauf in ein kleines Dorf namens Pero Negro führte. Strange war überrascht, wie sehr sich der Krieg, wie er ihn sich vorgestellt hatte, von dem Krieg unterschied, wie er wirklich war. Er hatte sich ausgemalt, dass Lord Wellington in einem prächtigen Gebäude in Lissabon saß und Befehle erteilte. Stattdessen fand er ihn an einem Ort vor, der zu klein war, um in England als Dorf zu gelten.
    Das Hauptquartier der Armee erwies sich als ein völlig unscheinbares Haus in einem schlichten gepflasterten Hof. Strange erfuhr, dass Lord Wellington ausgeritten war, um die Linien zu inspizieren. Niemand wusste, wann er wiederkommen würde – wahrscheinlich erst zum Abendessen. Niemand hatte etwas dagegen, wenn Strange wartete – solange er nicht im Weg stand.
    Doch von dem Augenblick an, als Strange das Haus betreten hatte, unterlag er diesem besonders unangenehmen Naturgesetz, das besagt, dass, wann immer ein Mensch an einen Ort kommt, an dem man ihn nicht kennt, er immer im Weg steht, gleichgültig, wo er sich aufhält. Er konnte sich nicht setzen, denn in dem Zimmer, in das man ihn gewiesen hatte, gab es keine Sessel – wahrscheinlich, damit sich die Franzosen, sollten sie je eindringen, nicht dahinter verstecken konnten –, also stellte er sich vor das Fenster. Doch dann kamen zwei Offiziere herein, und der eine von beiden wollte auf irgendeine wichtige militärische Besonderheit der portugiesischen Landschaft hinweisen, wofür es nötig war, aus dem Fenster zu schauen. Sie blickten Strange an, der sich in Richtung eines halb von einem Vorhang bedeckten Gewölbebogens bewegte.
    Währenddessen rief eine Stimme beständig aus der Einfahrt nach einem gewissen Winespill, mit der Bitte, die Pulverfässer zu bringen, und zwar schnell. Ein klein gewachsener, leicht buckliger Soldat betrat das Zimmer. Er hatte ein auffälliges rotes Mal im Gesicht und trug eine Uniform, die sich, so schien es, aus Versatzstücken sämtlicher Regimenter der britischen Armee zusammensetzte. Das war offensichtlich Winespill. Winespill war unglücklich. Er konnte das Kanonenpulver nicht finden. Er suchte in Schränken, unter Treppen und auf Balkonen. Immer wieder rief er »Einen Moment noch!« – bis er auf die Idee kam, hinter Strange nachzusehen, hinter dem Vorhang und unter dem Gewölbebogen. Umgehend rief er aus, dass er die Pulverfässer gefunden habe und dass er sie schon viel früher gesehen hätte, hätte nicht jemand – und hier warf er Strange einen finsteren Blick zu – davor gestanden.
    Die Stunden vergingen langsam. Strange hatte wieder seine Position am Fenster eingenommen und schlief beinahe ein, als er aus geschäftigen und unruhigen Geräuschen schloss, dass soeben eine wichtige Person das Haus betreten hatte. Im nächsten Augenblick stürmten drei Männer ins Zimmer, und Strange befand sich endlich in Lord Wellingtons Gegenwart.
    Wie soll man Lord Wellington beschreiben? Ist dies nötig oder gar möglich? Sein Konterfei findet sich, wohin man blickt: ein billiger Druck an der Mauer der Kutschenstation oder ein etwas sorgfältiger ausgearbeitetes Exemplar, mit Fahnen und Trommeln, am Treppenkopf zum Sitzungssaal. Heutzutage wird keine durchschnittlich romantisch veranlagte Siebzehnjährige ohne den Erwerb mindestens eines Bildes von ihm auskommen. Sie wird eine lange Adlernase für unendlich viel attraktiver befinden als eine kurze Stupsnase und es für die größte Tragödie ihres Lebens halten, dass er bereits verheiratet ist. Zum Trost ist sie fest entschlossen, ihren Erstgeborenen Arthur zu nennen. Und sie ist mit ihrer Hingabe nicht allein. Ihre jüngeren Brüder und Schwestern stehen ihr in ihrem fanatischen Eifer in nichts nach. Der bestaussehende Spielzeugsoldat eines englischen Kinderzimmers heißt immer Wellington und erlebt mehr Abenteuer als der Rest der Spielzeugschachtel gemeinsam. Jeder Schuljunge stellt mindestens einmal pro Woche Wellington dar, genau wie seine kleineren Schwestern. Wellington verkörpert jede englische Tugend. Er ist das Englische in Perfektion. Wenn die Franzosen Napoleon im Bauch tragen (was sie offensichtlich tun), dann tragen wir Wellington im Herzen. 64
    Allerdings war Lord Wellington

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