Jonathan Strange & Mr. Norrell
fragte Mr. Segundus besorgt. »Ich sehe Ihrem Gesicht an, dass es nicht angemessen ist.«
Stephen öffnete den Mund, um Mr. Segundus zu sagen, dass er etwas ganz anderes sah. Er sah, was die Lady sehen würde, sobald sie den Raum betrat. Stühle, Gemälde und Lampen hatten etwas Gespenstisches. Hinter ihnen befanden sich die wesentlich wirklicheren und solideren Mauern der grauen Korridore und Treppenhäuser von Verlorene Hoffnung.
Aber es hatte keinen Zweck, das erklären zu wollen. Die Worte hätten sich verwandelt, während er sie aussprach; sie wären zu irgendeinem Unsinn geworden über Bier, das aus Zorn und Sehnsucht nach Rache gebraut wurde, oder über Mädchen, deren Tränen zu Opalen und Perlen wurden, wenn der Mond zunahm, und deren Fußabdrücke sich mit Blut füllten, wenn der Mond abnahm. Deshalb sagte er nur: »Nein, nein. Es ist vollkommen zufrieden stellend. Es wird die Bedürfnisse der Lady erfüllen.«
Vielen Leuten wäre diese Antwort etwas kühl erschienen – vor allem, wenn sie so hart gearbeitet hätten wie Mr. Segundus –, aber Mr. Segundus erhob keine Einwände. »Das ist also die Dame, die Mr. Norrell von den Toten zurückgeholt hat?«, sagte er.
»Ja«, sagte Stephen.
»Die Tat, auf der das gesamte Wiederaufleben der englischen Zauberei gründet.«
»Ja«, sagte Stephen.
»Und doch hat sie versucht, ihn umzubringen. Das ist doch eine sehr merkwürdige Angelegenheit. Sehr merkwürdig!«
Stephen schwieg. Das waren seiner Ansicht nach keine Themen, über die der Tollhausvorsteher nachdenken sollte; und wenn er es doch tat, war es höchst unwahrscheinlich, dass er der Wahrheit auf die Spur kam.
Um Mr. Segundus von Lady Pole und ihrem angeblichen Verbrechen abzulenken, sagte Stephen: »Sir Walter hat diese Einrichtung selbst ausgewählt. Ich weiß nicht, wen er um Rat gefragt hat. Sind Sie schon lange Tollhausvorsteher?«
Mr. Segundus lachte. »Nein, überhaupt noch nicht lange. Ungefähr seit zwei Wochen. Lady Pole ist mein erster Schützling.«
»Wirklich?«
»Ich glaube, Sir Walter betrachtet meinen Mangel an Erfahrung eher als Vorteil denn als Nachteil. Andere Herren meines Berufsstandes sind es gewohnt, ihre Schützlinge zu kontrollieren und ihnen Zwänge aufzuerlegen – wogegen Sir Walter sich im Fall seiner Frau strikt ausgesprochen hat. Aber, wissen Sie, ich muss keine solchen Gewohnheiten ablegen. Die Lady wird in diesem Haus nichts als Freundlichkeit und Respekt erfahren. Und abgesehen von kleinen Vorsichtsmaßnahmen, die der gesunde Menschenverstand nahe legt – wie zum Beispiel Pistolen und Messer nicht herumliegen zu lassen –, wird sie hier behandelt werden wie ein Gast, und wir werden uns bemühen, sie glücklich zu machen.«
Stephen neigte den Kopf, um zu bekunden, dass er diese Vorschläge guthieß. »Wie sind Sie dazu gekommen?«, fragte er.
»Zu diesem Haus?«, fragte Mr. Segundus.
»Nein, einem Tollhaus vorzustehen.«
»Ach, durch Zufall. Letzten September hatte ich das große Glück, eine Dame namens Mrs. Lennox kennen zu lernen, die seitdem zu meiner Wohltäterin geworden ist. Das Haus gehört ihr. Ein paar Jahre versuchte sie, einen guten Pächter dafür zu finden, aber sie hatte keinen Erfolg. Sie mochte mich und wollte mir eine Freundlichkeit erweisen, deswegen hat sie beschlossen, hier etwas einzurichten und mir die Verantwortung zu übergeben. Zuerst dachten wir an eine Schule für Zauberer, aber...«
»Zauberer!«, rief Stephen überrascht. »Aber was haben Sie denn mit Zauberern zu schaffen?«
»Ich bin selbst einer. Schon immer.«
»In der Tat!«
Stephen schien diese Neuigkeit so zu erschrecken, dass Mr. Segundus sich am liebsten entschuldigt hätte – er wusste allerdings nicht, was für eine Entschuldigung er dafür, dass er Zauberer war, hätte vorbringen sollen. Er fuhr fort: »Aber Mr. Norrell war strikt gegen unseren Plan für eine Schule und schickte Childermass, um mich zu warnen. Kennen Sie John Childermass, Sir?«
»Ich kenne ihn vom Sehen«, sagte Stephen. »Aber ich habe nie mit ihm gesprochen.«
»Zuerst wollten Mrs. Lennox und ich uns ihm widersetzen – ich meine Mr. Norrell, nicht Childermass. Ich schrieb an Mr. Strange, aber mein Brief traf an dem Morgen ein, an dem seine Frau nicht aufzufinden war, und wie Sie vermutlich wissen, starb die arme Dame ein paar Tage darauf.«
Einen Augenblick sah Stephen so aus, als wollte er etwas sagen, aber dann schüttelte er den Kopf, und Mr. Segundus fuhr fort: »Wenn Mr. Strange uns
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