Jonathan Strange & Mr. Norrell
begriff er: Sie konnte sich nicht bewegen; ihr Kreuz war gebrochen.
Er blickte zu dem Anwesen in der Hoffnung, dass ihm jemand zu Hilfe kommen würde. Einen Moment lang stand eine Frau an einem Fenster. Stephen sah kurz elegante Kleider und eine kalte, hochmütige Schönheit. Sobald sie festgestellt hatte, dass der Unfall nichts und niemandem, das oder der ihr gehörte, Schaden zugefügt hatte, zog sie sich zurück, und Stephen sah sie nicht mehr.
Er kniete sich neben Firenze und streichelte ihren Kopf und ihre Schulter. Aus einer Satteltasche holte er eine Pistole, eine Pulverflasche, einen Ladestock und eine Patrone. Er lud die Pistole. Dann stand er auf und zog den Hammer zurück, bis der Hahn gespannt war.
Aber er musste feststellen, dass er nicht weiter gehen konnte. Sie war ihm eine zu gute Freundin gewesen; er konnte sie nicht töten. Er wollte gerade verzweifelt aufgeben, als er hinter sich auf der Straße ein Rumpeln hörte. Um die Ecke bog ein Fuhrwerk, gezogen von einem breiten, watschelnden, freundlichen Pferd. Der Fuhrmann, ein großer, fassförmiger Mann mit einem runden dicken Gesicht, saß auf dem Wagen. Er trug einen alten Überzieher. Als er Stephen sah, ließ er sein Pferd anhalten. »Eh, Jung. Wat is los?«
Stephen deutete mit der Pistole auf Firenze.
Der Fuhrmann stieg vom Wagen und trat zu Stephen. »War 'n schönes Tier«, sagte er freundlich. Er schlug Stephen auf die Schulter und atmete ihm mitfühlende Kohlgerüche ins Gesicht. »Aber, Jung. Dat hilft ihr nu nich mehr.«
Er blickte von Stephens Gesicht zur Pistole. Dann streckte er die Hand aus und hob vorsichtig das Rohr an, bis es auf Firenzes bebenden Kopf zielte. Als Stephen noch immer nicht abdrückte, sagte er: »Soll ich's für dich tun, Jung?«
Stephen nickte.
Der Fuhrmann nahm die Pistole. Stephen sah weg. Der Fuhrmann schoss – ein schreckliches Geräusch, gefolgt von wildem Krähen und Flügelschlagen, als alle Vögel in der Umgebung die Flucht ergriffen. Stephen sah wieder hin. Firenze krampfte sich einmal zusammen und lag dann reglos da.
»Danke«, sagte er zu dem Fuhrmann.
Er hörte den Fuhrmann davongehen und dachte, er würde wegfahren, aber kurz darauf kehrte er zurück, stieß Stephen mit dem Ellbogen an und reichte ihm eine schwarze Flasche.
Stephen trank. Es war Gin von der kratzigsten Sorte. Er musste husten.
Trotz der Tatsache, dass das Geld, das Stephens Kleider und Stiefel gekostet hatten, zweimal für den Karren und das Pferd des Fuhrmanns gereicht hätte, legte der Mann die frohgemute Überlegenheit an den Tag, die Weiße im Allgemeinen gegenüber Schwarzen empfinden. Er dachte nach und sagte dann zu Stephen, dass sie als Erstes den Kadaver fortschaffen lassen müssten. »Sie is 'n wertvolles Tier – tot oder lebendig. Dein Herr wird nich erfreut sein, wenn er merkt, dass jemand anners Pferd und Geld einsteckt.«
»Sie gehörte nicht meinem Herrn«, erwiderte Stephen. »Sie gehörte mir.«
»Ach!«, rief der Fuhrmann. »Na so was.«
Ein Rabe war auf Firenzes milchweißer Flanke gelandet.
»Nein!«, rief Stephen und wollte den Vogel verscheuchen.
Aber der Fuhrmann hielt ihn zurück. »Nee, Jung. Dat bringt Glück. Ich weiß nich, wann ich 'n bessres Omen gesehn hab.«
»Glück!«, sagte Stephen. »Wovon redest du?«
»Dat is dat Zeichen vom alten König, oder? Ein Rabe auf was Weißes. Dat Banner vom Alten John.« 113
Der Fuhrmann erklärte Stephen, dass er in der Nähe Leute kenne, die gegen Bezahlung dafür sorgen würden, dass Firenzes Kadaver fortgeschafft würde. Stephen stieg auf den Bock, und der Fuhrmann brachte ihn zu einem Bauernhof.
Der Bauer hatte noch nie zuvor einen schwarzen Mann gesehen und war tief erstaunt, so eine anderländische Gestalt auf seinem Hof zu erblicken. Trotz aller gegenteiligen Beweise wollte er nicht glauben, dass Stephen Englisch sprach. Der Fuhrmann, der die Verwirrung des Bauern nachvollziehen konnte, stellte sich neben Stephen und wiederholte freundlicherweise alles, was er sagte, zum besseren Verständnis des Bauern. Aber es nützte nichts. Der Bauer beachtete sie beide nicht, sondern starrte Stephen an und redete über ihn mit einem seiner Männer, die ebenso verzückt neben ihm standen. Der Bauer fragte sich, ob die schwarze Farbe abfärbte, wenn Stephen etwas berührte, und machte noch unverschämtere und unangenehmere Bemerkungen. Stephens gewissenhafte Anweisungen, was die Entfernung von Firenzes Kadaver betraf, blieben ungehört, bis die Frau des
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