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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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Drawlight gewartet habe. Dort hat man ihn gewiss weggeworfen.« Er wandte sich wieder zum Feuer.
    Childermass starrte ihn einen Augenblick finster an. Dann verließ er den Raum.
    Ein Diener kam herein und sagte, dass heißes Wasser, Handtücher und weitere Annehmlichkeiten in zwei Schlafzimmern bereit wären, so dass Mr. Norrell und Lascelles sich erfrischen könnten. »Und im Korridor ist es ziemlich schummrig, meine Herren«, sagte er frohgemut. »Deswegen habe ich für jeden von Ihnen eine Kerze angezündet.«
    Mr. Norrell nahm eine Kerze und ging den Korridor (in dem es tatsächlich sehr dunkel war) entlang. Plötzlich tauchte Childermass auf und hielt ihn am Arm fest. »Was um alles in der Welt haben Sie sich dabei gedacht?«, zischte er. »Aus London ohne diesen Brief abzureisen?«
    »Aber er sagt, er erinnert sich an den Inhalt«, sagte Mr. Norrell beschwichtigend.
    »Ach! Und Sie glauben ihm?«
    Mr. Norrell erwiderte nichts. Er ging in das Zimmer, das vorbereitet worden war. Er wusch sich die Hände und das Gesicht, und dabei erhaschte er im Spiegel einen Blick auf das Bett hinter ihm. Es war wuchtig, altmodisch und – wie häufig in Gasthäusern – viel zu groß für das Zimmer. Vier geschnitzte Mahagonisäulen, ein hoher dunkler Betthimmel und schwarze Straußenfederbüsche an jeder Ecke gemahnten den Betrachter an eine Beerdigung. Es war, als hätte ihn jemand in das Zimmer geführt und ihm sein eigenes Grab gezeigt. Ihn überkam ein höchst seltsames Gefühl – dasselbe Gefühl, dass er am Zollhäuschen verspürt hatte, als er die drei Frauen beobachtete –, das Gefühl, dass etwas seinem Ende entgegenstrebte und alle seine Entscheidungen nun getroffen waren. Er hatte diesen Weg in seiner Jugend eingeschlagen, doch der Weg führte nicht dorthin, wo er es vermutet hätte; er kehrte nach Hause zurück, aber sein Zuhause war zu etwas Ungeheuerlichem geworden. Er stand im Halbdunkel neben dem schwarzen Bett und erinnerte sich daran, warum er sich als Kind immer vor der Dunkelheit gefürchtet hatte: Die Dunkelheit gehörte John Uskglass.
    Heute und für immer flehe ich ,
    vergiss mich nicht, vergiss mich nicht ,
    In den Mooren, unter den Sternen gar ,
    In des Königs wilder Schar .
    Er eilte aus dem Zimmer zurück in die Wärme und Helligkeit des Schankraums.
    Kurz nach sechs Uhr zog eine graue Morgendämmerung auf, die kaum die Bezeichnung Dämmerung verdiente. Weißer Schnee fiel aus einem grauen Himmel auf eine grauweiße Welt. Davey war so über und über mit Schnee bedeckt, dass man hätte annehmen können, jemand habe ein Wachsmodell von ihm bestellt, und nun werde die Gipsform vorbereitet.
    Den ganzen Tag mühte sich eine Folge von Postpferden, die Kutsche durch Schnee und Wind zu ziehen. Eine Folge von Gasthäusern bot heiße Getränke und kurze Zuflucht vor dem Wetter. Davey und Childermass – als Kutscher und Reiter waren sie zweifellos am erschöpftesten von allen – hatten kaum etwas von diesen Pausen; sie waren normalerweise im Stall und stritten sich mit dem Gastwirt um die Pferde. In Grantham brachte der Gastwirt Childermass in Rage, als er ihnen vorschlug, ein blindes Pferd zu mieten. Childermass schwor, es nicht zu nehmen; der Gastwirt hingegen schwor, es sei sein bestes Pferd. Sie hatten keine andere Wahl und nahmen es schließlich. Davey sagte später, es sei ein hervorragendes Tier; es mühe sich redlich und gehorche allen Befehlen aufs Wort, weil es keine andere Möglichkeit habe, herauszufinden, wohin es gehen oder was es tun sollte. Davey selbst hielt bis zum Newcastle Arms in Tuxford durch, dann mussten sie ihn zurücklassen. Er war laut Childermass mehr als hundertdreißig Meilen gefahren und so müde, dass er kaum noch sprechen konnte. Sie mieteten einen Postillion und reisten weiter.
    Etwa eine Stunde vor Sonnenuntergang ließ der Schneefall nach, und der Himmel brach auf. Lange blauschwarze Schatten legten sich über die kahlen Felder. Fünf Meilen nach Doncaster kamen sie an einem Gasthaus vorbei, das den Namen »Rotes Haus« trug; es war nach seinen bemalten Mauern benannt. In der schwachen Wintersonne funkelte es, als stünde es in Flammen. Die Kutsche fuhr ein kleines Stück weiter und hielt dann an.
    »Warum halten wir?«, rief Mr. Norrell.
    Lucas beugte sich vom Kutschbock herab und antwortete ihm, doch der Wind trug seine Worte davon, und Mr. Norrell verstand nicht, was er sagte.
    Childermass hatte die Landstraße verlassen und ritt über ein Feld. Das Feld war voller

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