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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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etwas davon erfahren. Da können Sie sich auf mich verlassen«, sagte der Herr. »Überdies hat sie im Moment überhaupt kein Leben. Ein halbes Leben ist besser als gar keines.«
    Ein halbes Leben schien in der Tat ein ganzes Stück besser als gar keines. Mit einem halben Leben konnte Miss Wintertowne Sir Walter heiraten und ihn vor dem Bankrott bewahren. Dann konnte Sir Walter weiterhin im Dienst bleiben und damit Mr. Norrells Pläne, die englische Zauberei wiederzubeleben, unterstützen. Doch Mr. Norrell hatte eine ganze Reihe von Büchern gelesen, in denen beschrieben wurde, wie andere englische Zauberer mit Personen dieser Art umgingen, und er wusste sehr genau, wie hinterlistig sie sein konnten. Er glaubte zu durchschauen, dass der Herr versuchte, ihn zu betrügen.
    »Wie lange ist ein Leben?«, fragte er.
    Der Herr mit dem Haar wie Distelwolle spreizte die Finger in einer Geste vollkommener Ehrlichkeit. »Wie lange hätten Sie es denn gern?«
    Mr. Norrell dachte nach. »Gehen wir einmal davon aus, sie wäre vierundneunzig Jahre alt geworden. Vierundneunzig wäre ein gutes Alter gewesen. Jetzt ist sie neunzehn. Das heißt, es fehlen noch fünfundsiebzig Jahre. Wenn du es schaffst, ihr weitere fünfundsiebzig Jahre zu schenken, dann sehe ich keinen Grund, warum du nicht die Hälfte davon bekommen solltest.«
    »Also dann fünfundsiebzig Jahre«, willigte der Herr mit dem Haar wie Distelwolle ein. »Wovon genau die Hälfte mir gehört.«
    Mr. Norrell sah ihn nervös an. »Gibt es da noch etwas, was wir machen müssen?«, fragte er. »Sollen wir etwas unterschreiben?«
    »Nein, aber ich sollte etwas aus dem Besitz der Dame an mich nehmen, das meinen Anspruch an sie deutlich macht.«
    »Nimm einen ihrer Ringe«, schlug Mr. Norrell vor. »Oder die Kette um ihren Hals. Ich bin sicher, dass ich einen fehlenden Ring oder eine fehlende Halskette erklären kann.«
    »Nein«, sagte der Herr mit dem Haar wie Distelwolle. »Es muss etwas sein, das ... Ah! Ich weiß.«
    Drawlight und Lascelles saßen in dem Salon, in dem sich Mr. Norrell und Sir Walter Pole zum ersten Mal getroffen hatten. Es war ein ziemlich düsterer Ort. Das Feuer glomm schwach im Kamin, und die Kerzen waren fast heruntergebrannt. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und niemand hatte die Fensterläden geschlossen. Das Prasseln des Regens gegen die Fenster war sehr melancholisch.
    »Das ist die richtige Nacht, um Tote aufzuerwecken«, bemerkte Mr. Lascelles. »Regen und Zweige peitschen gegen die Fensterscheiben, und der Wind stöhnt im Kamin – genau die passenden Bühneneffekte. Gelegentlich überkommt mich der Drang, ein Stück zu schreiben, und ich überlege, ob mich die Ereignisse dieser Nacht nicht zu einem erneuten Versuch anregen könnten – eine Tragikomödie, die von den verzweifelten Anstrengungen eines Ministers handelt, mit allen Mitteln zu Geld zu kommen, von einer lukrativen Ehe bis hin zu Hexerei. Ich könnte mir vorstellen, dass so etwas gut ankäme. Ich glaube, ich nenne es ›Schade um die schöne Leiche‹.«
    Lascelles machte eine Pause, damit Drawlight über diese witzige Bemerkung lachen konnte, doch Drawlights Sinn für Humor war erloschen, nachdem der Zauberer ihm verboten hatte, zu bleiben und der Zauberei beizuwohnen, und er sagte lediglich: »Wohin, glauben Sie, sind alle gegangen?«
    »Ich weiß es nicht.«
    »Nun, wenn man in Betracht zieht, was Sie und ich alles für sie getan haben, dann hätten wir meiner Meinung nach etwas Besseres verdient als das. Es ist kaum eine halbe Stunde her, dass sie so voller Dankbarkeit uns gegenüber waren. Schlimm, wie schnell man uns vergisst. Und seit unserer Ankunft wurde uns nicht einmal ein Stückchen Kuchen angeboten. Ich vermute, es ist zu spät fürs Abendessen – obwohl ich für mein Teil am Verhungern bin.« Er schwieg einen Augenblick. »Das Feuer geht auch aus«, bemerkte er.
    »Dann legen Sie doch noch ein paar Kohlen nach«, schlug Lascelles vor.
    »Was! Ich soll mich schmutzig machen?«
    Die Kerzen erloschen eine nach der anderen, und der Lichtschein des Feuers wurde immer schwächer, bis die venezianischen Gemälde nur noch große tiefschwarze Vierecke auf etwas weniger schwarzen Wänden waren. Sie saßen lange Zeit schweigend da.
    »Die Uhr hat gerade halb zwei geschlagen«, sagte Drawlight Plötzlich. »Wie einsam das klingt. Huuu! All die schauerlichen Dinge, von denen man in Romanen liest, passieren immer genau dann, wenn die Kirchenglocke oder die Wanduhr irgendeine

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