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Jonathan Strange & Mr. Norrell

Jonathan Strange & Mr. Norrell

Titel: Jonathan Strange & Mr. Norrell Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susanna Clarke
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jemand da. Miss Wintertowne lag auf dem Bett, aber es hätte die Philosophie vor ein Rätsel gestellt, ob man jetzt sagen konnte, dass jemand da war oder niemand.
    Man hatte sie in ein weißes Gewand gekleidet und ihr eine Silberkette um den Hals gelegt; man hatte ihr das wunderschöne Haar gekämmt und frisiert und ihr Ohrringe aus Perlen und Granaten an die Ohren gesteckt. Aber es war äußerst zweifelhaft, ob Miss Wintertowne solche Dinge noch etwas bedeuteten. Man hatte Kerzen angezündet und ein kräftiges Feuer im Kamin angefacht, man hatte Rosen im Raum verteilt, die ihn mit einem süßen Duft erfüllten, aber Miss Wintertowne hätte mit der gleichen Gelassenheit in der stinkendsten Dachkammer der Stadt liegen können.
    »Und sie war ganz nett anzuschauen, sagen Sie?«, sagte Mr. Lascelles.
    »Haben Sie sie nie gesehen?«, fragte Drawlight. »Ach! Sie war ein himmlisches Geschöpf. Gleichsam göttlich. Ein Engel.«
    »Wirklich? Und jetzt sieht sie aus wie ein zerdrücktes Ding, das bald auseinander fällt. Ich werde sämtlichen gut aussehenden Frauen in meinem Bekanntenkreis raten, nicht zu sterben«, sagte Mr. Lascelles. Er beugte sich näher zu ihr. »Man hat ihr die Augen zugedrückt«, sagte er.
    »Ihre Augen waren vollkommen«, sagte Drawlight. »Von einem klaren dunklen Grau, mit langen dunklen Wimpern und dunklen Brauen. Ein Jammer, dass Sie sie nie gesehen haben – sie hätte Ihnen gefallen.« Drawlight wandte sich an Mr. Norrell. »Nun, Sir, sind Sie bereit, anzufangen?«
    Mr. Norrell hatte sich in einen Sessel neben dem Kamin gesetzt. Die entschlossene, geschäftige Haltung, die er bei seiner Ankunft in diesem Haus angenommen hatte, war von ihm gewichen; stattdessen saß er mit gebeugtem Rücken und schwer seufzend da und hielt den Blick auf den Teppich gerichtet. Mr. Lascelles und Mr. Drawlight beobachteten ihn mit dem zu ihrem jeweiligen Charakter passenden Grad an Interesse – das heißt, Mr. Drawlight war ganz nervöse und großäugige Vorahnung, Mr. Lascelles ganz kühle, lächelnde Skepsis. Mr. Drawlight trat einige respektvolle Schritte vom Bett zurück, damit Mr. Norrell bequemer herantreten konnte, und Mr. Lascelles lehnte sich gegen die Wand und verschränkte die Arme (eine Haltung, die er im Theater oft einnahm).
    Mr. Norrell seufzte noch einmal. »Mr. Drawlight, ich erwähnte bereits, dass dieser besondere Zauber absolutes Alleinsein erfordert. Ich muss Sie bitten, unten zu warten.«
    »Aber, Sir!«, widersprach Drawlight. »So enge Freunde wie Lascelles und ich werden Ihnen doch sicherlich nicht zur Last fallen? Wir sind die stillsten Wesen der Welt! In zwei Minuten werden Sie vergessen haben, dass wir hier sind. Und ich muss sagen, dass ich unsere Gegenwart als absolut unerlässlich betrachte. Denn wer wird die Nachrichten von Ihrem Erfolg morgen früh verkünden, wenn nicht wir, Lascelles und ich? Wer wird die unaussprechliche Größe des Moments beschreiben, in dem Ihre Zauberkunst triumphiert und die junge Dame von den Toten aufersteht? Oder die unerträgliche Tragik des Moments, in dem Sie sich gezwungen sehen, Ihr Scheitern einzugestehen? Sie selbst werden das nicht halb so gut können, Sir. Sie wissen, dass Sie das nicht können.«
    »Das kann sein«, sagte Mr. Norrell. »Aber was Sie da vorschlagen, ist ganz und gar unmöglich. Ich werde nicht, ich kann nicht anfangen, bevor Sie nicht den Raum verlassen haben.«
    Der arme Drawlight! Er konnte den Zauberer nicht zwingen, die Zauberei gegen seinen Willen aufzunehmen, aber er hatte so lange gewartet, um die Zauberei zu sehen, und nun wurde er ausgeschlossen! Es war eigentlich mehr, als er ertragen konnte. Selbst Mr. Lascelles war ein wenig enttäuscht, denn er hatte gehofft, Zeuge von etwas sehr Lächerlichem zu werden, über das er sich amüsieren konnte.
    Als sie gegangen waren, erhob sich Mr. Norrell müde aus dem Sessel und nahm sein Buch. Er öffnete es an der Stelle, die er mit dem zusammengefalteten Brief gekennzeichnet hatte, und legte es auf einen kleinen Tisch, damit es zur Hand wäre, wenn er es brauchte. Dann begann er einen Spruch aufzusagen.
    Die Wirkung trat fast sofort ein, denn dort, wo vorher kein Grün war, war es plötzlich grün, und ein frischer, süßer Geruch nach Wald und Feldern wehte durch das Zimmer. Mr. Norrell hörte auf zu sprechen.
    Jemand stand in der Mitte des Zimmers: eine große, ansehnliche Person mit blasser, makelloser Haut und einer Unmenge von Haar, so weiß und schimmernd wie Distelwolle.

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