Jonathan Strange & Mr. Norrell
zu jeder Stunde Wunder vollbrachte. Jeder Heilige lag in einem Sarg aus Elfenbein, der wiederum in einem mit Edelsteinen besetzten größeren Sarg lag, der seinerseits in einem großartigen Schrein aus Gold und Silber stand und Tag und Nacht im Licht von tausend brennenden Wachskerzen erstrahlte.
Jeden Tag gab es eine Prozession zu Ehren des einen oder anderen Heiligen, und Londons Ruhm wurde von einer Welt in die nächste getragen. Selbstverständlich pflegten die Bürger von London in jenen Tagen mich um Rat zu fragen, wenn es um den Bau einer Kirche, die Anlage eines Gartens, die Einrichtung eines Hauses ging. Wenn sie ihre Bitten angemessen respektvoll vortrugen, erteilte ich in der Regel guten Rat. Oh ja! Als London sein Aussehen noch mir verdankte, war es schön, edel, unvergleichlich. Aber jetzt...«
Er machte eine beredte Geste, als würde er London in seiner Hand zu einem Ball zerdrücken und wegwerfen. »Aber wie töricht Sie aussehen, wenn Sie mich so anstarren. Ich habe keine Mühe gescheut, um Ihnen diesen Besuch abzustatten – und Sie sitzen schweigend und grämlich und mit offenem Mund da. Sie sind überrascht, mich zu sehen, ich glaube es wohl, aber das ist kein Grund, Ihre guten Manieren zu vergessen. Selbstverständlich«, fügte er hinzu wie jemand, der ein großes Zugeständnis macht, »sind Engländer in meiner Gegenwart häufig verdutzt – das ist die natürlichste Sache der Welt –, aber Sie und ich sind Freunde, und deswegen finde ich, ich hätte eine herzlichere Begrüßung verdient.«
»Sind wir uns schon einmal begegnet, Sir?«, fragte Stephen erstaunt. »Gewiss, ich habe von Ihnen geträumt. Ich habe geträumt, dass Sie und ich gemeinsam in einem riesigen herrschaftlichen Haus mit endlosen verstaubten Korridoren waren.«
»›Sind wir uns schon einmal begegnet, Sir?‹«, höhnte der Herr mit dem Haar wie Distelwolle. »Was für einen Unsinn Sie reden. Als wären wir nicht seit Wochen Abend für Abend auf denselben Festen, Bällen, Partys.«
»Gewiss, in meinen Träumen -«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Sie so schwer von Begriff sind«, rief der Herr. »Verlorene Hoffnung ist kein Traum . Es ist das älteste und schönste meiner Häuser – und ich besitze etliche –, und es ist so wirklich wie Carlton House. 35 Ja, es ist wesentlich wirklicher. Da mir die Zukunft größtenteils bekannt ist, kann ich Ihnen sagen, dass Carlton House in zwanzig Jahren dem Erdboden gleichgemacht wird, und London wird gerade noch einmal zweitausend Jahre überdauern, aber Verlorene Hoffnung wird Bestand haben bis ins nächste Zeitalter der Welt.« Er schien mit diesem Gedanken lächerlich zufrieden, ja, sein Wesen zeugte insgesamt von großer Selbstgefälligkeit. »Nein, es ist kein Traum. Sie stehen lediglich unter einem Zauber, der Sie jede Nacht nach Verlorene Hoffnung bringt, um an unseren Elfenfestlichkeiten teilzunehmen.«
Stephen starrte den Herrn verständnislos an. Dann fiel ihm ein, dass er etwas sagen musste, oder ihm würden erneut Griesgrämigkeit und schlechte Manieren vorgehalten, deswegen riss er sich zusammen und stammelte: »Und ... und stammt dieser Zauber von Ihnen, Sir?«
»Aber selbstverständlich.«
Der zufriedenen Miene des Herrn mit dem Haar wie Distelwolle war anzusehen, dass er der Meinung war, er hätte Stephen den größten aller Gefallen getan, indem er ihn verzaubert hatte. Stephen dankte ihm höflich. »... Obwohl«, fügte er hinzu, »ich mir nicht vorstellen kann, womit ich Ihre Freundlichkeit verdient haben könnte. Ich bin sicher, ich habe überhaupt nichts getan.«
»Ah!«, rief der Herr begeistert. »Sie haben wirklich ausgezeichnete Manieren, Stephen Black. Sie könnten den stolzen Engländern etwas über den Respekt beibringen, der Personen von Rang zusteht. Ihre Manieren werden Ihnen letztlich Glück bringen.«
»Und die goldenen Guineen in der Kasse von Mrs. Brandy?«, sagte Stephen. »Waren die auch von Ihnen?«
»Dieser Gedanke kommt Ihnen jetzt schon? Aber bemerken Sie doch bitte, wie schlau das war. Eingedenk all dessen, was Sie mir erzählt haben darüber, dass Sie Tag und Nacht von Feinden umgeben sind, die Ihnen Böses wollen, habe ich das Geld einer Freundin von Ihnen übermittelt. Wenn Sie heiraten, wird es Ihnen gehören.«
»Woher wussten Sie ...«, setzte Stephen an und hielt dann inne. Es gab offenbar keinen Teil seines Lebens, über den der Herr nicht Bescheid wusste und in den einzugreifen er sich nicht berechtigt fühlte. »Aber was
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