Jones, Diana Wynne
ins Lot.«
Milda lachte und umarmte ihn. »Das ist mein Mitt, wie ich ihn kenne!«
3.
Wie durch ein Wunder kamen keine Soldaten, Milda und Mitt zu holen. Anscheinend begnügten sich Dideo, Siriol und Ham damit, die jüngeren Freien Holander loszuwerden, ohne Frauen und Angehörige mit hineinzuziehen. Dennoch durchlebten Mitt und seine Mutter eine schwere Zeit. Als Milda sich nach einer Woche wieder auf die Straße wagte und zur Arbeit ging, musste sie feststellen, dass eine andere Näherin ihren Platz eingenommen hatte. Mitt war wütend darüber.
»So ist es eben in dieser Stadt«, erklärte Milda. »Hier gibt es Hunderte armer Frauen, die sich gern die Finger wund arbeiten. Und die reichen Leute bestehen darauf, dass ihre Vorhänge pünktlich fertig bestickt sind.«
»Warum?«, fragte Mitt. »Können sich die Armen denn nicht zusammentun und den Reichen sagen, dass sie so nicht mehr weitermachen wollen?«
Solche Fragen brachten Milda dazu, ihn eine freie Seele zu nennen, und Mitt wusste es. Darum fragte er häufig nach solchen Dingen. Ihm war es ein großer Trost zu wissen, eine freie Seele zu sein und keine Furcht zu kennen, während Milda sich von einer Manufaktur zur nächsten schleppte. Mitt selbst verbrachte die Tage elend und hungrig vor den Hintereingängen von Kontoren oder am Rande der Bootswerften und hoffte, auf einen Botengang geschickt zu werden. Aber man suchte ihn nur selten aus. Mitt war zu klein, und stets standen genügend größere, beredsamere Stadtjungen in der Nähe, die Mitt beiseite stießen und an seiner Stelle den Botengang übernahmen. Außerdem verspotteten sie ihn natürlich. Dann versicherte sich Mitt, er sei eine freie Seele, jawohl, und wartete geduldig weiter. Das half ihm sehr.
Die Nächte waren schrecklich. Immer wieder träumte er von Canden, der an die Tür geschlurft kam. Die Tür öffnete sich, und da stand er, an den Rahmen geklammert, und zerfiel langsam in Stücke wie der Arme Alte Ammet im Hafen. »Alle tot«, sagte Canden immer, während sich die Körperteile von ihm lösten, und dann fuhr Mitt aus dem Schlaf hoch und wollte schreien. Er legte sich wieder zurück und ermahnte sich, dass er gar nicht wisse, was Furcht sei. Mitten in der Nacht konnte er das nicht immer ohne weiteres glauben. Manchmal, wenn Mitt tatsächlich schrie, erwachte auch Milda, und sie erzählte Mitt dann Märchen, bis er wieder einschlief.
Mildas Märchen hörte er gern zu. Sie handelten von Zauberei, von Abenteuern und Kämpfen, und alle trugen sie sich anscheinend in Nord-Dalemark zu, als es noch Könige gab – obwohl auch Grafen in den Märchen vorkamen, und sogar gewöhnliche Leute. Mitt verwunderten diese Geschichten. Er wusste, dass Holand in Süd-Dalemark lag, der Norden aber erschien ihm so fremd, dass er sich eine Zeit lang fragte, ob es ihn überhaupt gab.
»Gibt es sie im Norden denn noch immer Könige?«, fragte er, nur um zu hören, was Milda darauf antworten würde.
Leider wusste Milda enttäuschend wenig über Nord-Dalemark. »Nein, da gibt es auch keinen König mehr«, sagte sie. »Ich habe gehört, dass es im Norden Grafen gibt wie bei uns, nur sind die Grafen dort alle Freiheitskämpfer, wie dein Vater einer war.«
Mitt konnte nicht begreifen, wie ausgerechnet ein Graf für die Freiheit eintreten konnte. Auch Milda vermochte es ihm nicht zu erklären.
»Ich kann nur eins sagen: Ich wünschte, wir hätten wieder Könige«, versicherte sie Mitt. »Von Grafen haben wir nichts. Sieh dir nur Hadd an – wir arme Leute sind für ihn bloß Pacht oder Miete auf zwei Beinen, und wenn wir etwas tun, das ihm nicht gefällt, dann wirft er uns ins Gefängnis, oder Schlimmeres.«
»Aber will er denn jeden einsperren?«, wandte Mitt ein. »Dann hätte er doch keinen mehr, der ihm seine Fische fängt oder seine Kleider näht.«
»Ach, du bist eine freie Seele, Mitt!«, rief Milda aus.
Mitt konnte nicht sicher sagen, wie oder wann es geschah, doch im Laufe dieser Gespräche, die er mit Milda in der Nacht führte, schälte sich immer mehr zwischen ihnen heraus, dass Mitt eines Tages seinen Vater rächen und alles Unrecht in Holand gutmachen würde. Das stand schon fest, bevor Milda neue Arbeit fand, und sie fand schnell Arbeit in einer anderen Näherei, denn wenn sie sich wirklich gut auf etwas verstand, dann auf feine Stickereiarbeiten. Dadurch konnten sie rechtzeitig die Miete für ihr Zimmer zahlen, und der Hauswirt setzte sie nicht auf die Straße. Zu essen hatten sie jedoch
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