Jones, Diana Wynne
Straße des Windes. Dann sah er auch etwas, das wie Grasbüschel aussah, und einige fast voll gesogene Blumen.
»Ach, ich weiß!«, rief Ynen. »Das müssen die Girlanden vom Seefest sein. Die Ebbe muss sie in die Strömung gezogen haben.«
»Ob man die noch essen kann?«, fragte sich Mitt.
Von Hildy kam ein aufgeregter Schrei. Mit dem Finger deutete sie seewärts auf etwas, das voraus im Wasser trieb. Mitt und Ynen erblickten schmutziges, flachsblondes Haar und eine erhobene Hand, und im ersten, schrecklichen Moment glaubten sie, es wäre ein Ertrunkener. Dann rollte es herum und schien nur noch eine Matte aus weißem Strohgeflecht zu sein.
»Seht ihr’s denn nicht?«, schrie Hildy. »Das ist der Arme Alte Ammet!«
Die Straße des Windes drehte in der Aufregung des Augenblicks ab und erzitterte. Ynen hätte fast die Ruderpinne losgelassen. Mitt rannte von einer Seite auf die andere. Was immer sie voneinander unterschied, sie alle drei waren Holander und wussten, dass ihnen hier Glück für den Rest ihres Lebens winkte.
»Wir fahren an ihm vorbei, wir fahren an ihm vorbei! Schnell, Mitt!«, schrie Hildy. »Reich mir den Bootshaken!«
Mitt stürzte zu Ynen und riss ihm die Ruderpinne aus der Hand. »Geh, hilf ihr! Ich drehe sie für dich bei.«
Ynen ahnte, dass dieses Manöver seine Kräfte überstieg. Er ließ die Pinne beinahe los, bevor Mitt sie gepackt hatte, und schoss über das Kajütendach. Im Vorbeirennen schnappte er sich Schrubber und Bootshaken. Er warf Hildy den Schrubber zu, und dann stellten sie sich, frohlockend die Werkzeuge schwenkend, auf den spitzen Bug. Während Mitt die Straße des Windes am Alten Ammet vorbeischießen ließ und in den Wind drehte, fürchtete er sehr, dass einer von ihnen oder sogar beide sich zum Alten Ammet ins Wasser gesellen könnten. Doch sie hielten sich gut fest. Mitt ließ das Großsegel mit einem langen Rattern killen, damit die Straße des Windes an Fahrt verlor. Sie schoss weiter, Platsch-platsch-platsch machte sie auf den Wellen; die Wellen knallten gegen ihren Bug und bespritzten Hildy und Ynen gründlich. Als sie nur noch einige Schritte weit von der treibenden Strohfigur entfernt waren, drehte Mitt die Straße des Windes genau in den Wind, und sie stand beinahe still, schüttelte sich und schwankte. Hildy und Ynen warfen sich auf den Bauch und stürzten sich mit Schrubber und Bootshaken auf den Armen Alten Ammet.
Ihren unbeholfenen Versuchen zuzusehen tat Mitt in der Seele weh. Die beiden wussten überhaupt nicht, wie man es anstellt, wenn man etwas aus dem Meer fischen will. Hildy fuchtelte ungeschickt herum. Ynen hing wie ein Äffchen unter dem Bugspriet und verdarb Mitts genaues Manöver, indem er den Alten Ammet immer weiter davonstieß. Es konnte nicht anders kommen, als dass sie ihn verloren, und Mitt band die Pinne fest und wollte den beiden zu Hilfe eilen. Prompt trieb die Straße des Windes seitlich mit den Wellen ab, und der starke Wind drohte ihr schon wieder die Segel zu blähen. Dann aber würde sie kentern. Mitt eilte wieder an die Pinne.
»Verwünscht sei dein Eigensinn!«, sagte er zu der Straße des Windes. »Gehorche mir, sonst versenke ich dich – ja, dich meine ich!«
Doch die Seitwärtsbewegung schenkte Ynen die zusätzliche Elle, die er brauchte. Es gelang ihm, den Alten Ammet mit dem Bootshaken zu packen. Hildy legte den Schrubber darauf, damit er nicht so stark am Haken rüttelte, und gemeinsam zogen sie den Armen Alten Ammet an Bord wie ein Bündel nasses Stroh.
Mitt wunderte sich, wie er diese verschlungene Masse geflochtener Weizenähren für einen Ertrunkenen hatte halten können. Der Alte Ammet hatte zwar noch immer Arme, Beine und einen büscheligen Kopf, besaß mittlerweile aber eher die Gestalt eines Seesterns denn eines Menschen. Die meisten der schönen roten Bänder waren fort, und er schielte. Ja, das war wirklich ein Armer Alter Ammet. Dennoch waren die drei entzückt, ihn zu sehen. Sie alle riefen: »Willkommen an Bord, Alter Ammet, Herr!«, was man, wie sie wussten, zu diesem Anlass eben sagen sollte. Fröhlich brachte Mitt die Straße des Windes wieder auf ihren alten Kurs, während Hildy und Ynen zuerst einen unsicheren Freudentanz auf dem Kabinendach aufführten und sich dann daran begaben, den Alten Ammet wie eine Galionsfigur am Bug zu befestigen – was man eben auch tun musste.
Der Arme Alte Ammet war schlaff und vom Meerwasser durchtränkt. Leicht war es nicht, aus ihm eine Galionsfigur zu machen. Ynen
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