Jordan, Penny
angeschrien, er habe keine Ahnung, wie es war, arm und allein zu sein. Philips sanfte Worte mochten für andere gelten, für Menschen mit einer Familie und einem Zuhause. Solange er nicht wusste, wie es war, nichts zu haben, besaß er kein Recht, ihr Vorhaltungen zu machen, weil sie reich werden wollte.
Rachels Wehen begannen an einem Sonnabendabend im Juni. Mary blieb bei ihr, tröstete sie und machte ihr Mut. Doch als sie ihren Sohn endlich geboren hatte, sagte Rachel erschöpft: „Ich will ihn nicht sehen. Nimm du ihn, Mary.“
Während ihres gesamten Krankenhausaufenthaltes blieb sie bei ihrem Entschluss. Mary war es, die sich über sein Bettchen beugte, jede noch so winzige Bewegung beobachtete und gespannt seine Fortschritte verfolgte.
Sie war es auch, die das rüschenbesetzte Körbchen und die winzigen Sachen der Erstausstattung kaufte, und sie trug das Baby, als Philip Mutter und Kind nach Hause holte.
„Rachel, bitte … Halt ihn nur einen Moment!“
Entschlossen blickte Rachel zur Seite. Seit drei Wochen war sie wieder bei den Simms und hatte ihren Sohn noch kein einziges Mal angesehen oder gar berührt. Ihr Hass und ihre Abscheu gegenüber dem Kind waren einem heftigen Schmerz gewichen, und sie ahnte, dass eine Bindung zwischen ihr und ihrem Sohn entstehen würde, sobald sie ihn betrachtete oder gar auf den Arm nahm.
Mary hatte recht gehabt, sie konnte ihr eigenes Kind nicht hassen. Aber sie hatte während der langen Monate der Schwangerschaft viel Zeit zum Nachdenken gehabt und ihr weiteres Leben bewusst so geplant, dass kein Platz für ein Kind darin war.
Hier bei Mary und Philip würde ihr Sohn jene Liebe und Geborgenheit finden, die sie ihm niemals geben konnte. Es war richtig, ihn bei dem Ehepaar zu lassen. Deshalb hatte sie sich gezwungen, ihn vom ersten Augenblick an als deren Kind zu betrachten. Hier würde er ohne den Makel seiner Zeugung aufwachsen; von diesen freundlichen, netten Leuten würde er jene Tugenden und Pflichten erlernen, die sie ihn nie lehren konnte. Bei ihnen war er in Sicherheit. Wenn sie Simon Herries heimzahlte, was er ihr angetan hatte, würde der seinerseits gewiss ebenfalls versuchen, ihr zu schaden – selbst wenn er sein eigenes Kind dadurch vernichten würde.
Mit der Geburt ihres Kindes hatte sich Rachels Entschlossenheit, sich an den vier Männern zu rächen, noch verstärkt. Gleichzeitig war sie reifer geworden. Deshalb sah sie Mary offen ins Gesicht und antwortete aufrichtig: „Ich darf es nicht, Mary. Wenn ich ihn jetzt auf den Arm nehme, kann ich ihn vielleicht nie wieder hergeben. Es ist nicht mein Baby, es ist deines.“
Sie holte tief Luft und fuhr fort: „Ich bin von seinem Vater vergewaltigt worden. Das kann ich nicht vergessen, und mein Sohn soll nicht im Schatten dieses Verbrechens aufwachsen. Du kannst ihm so viel geben … All jene Dinge, die ich ihm nicht schenken kann: Liebe, Sicherheit. Ich möchte, dass er das kennenlernt. Ich möchte, dass er euch als Eltern bekommt, dass er euer Kind ist, dann wird er beschützt, umsorgt und geliebt werden.“
Die Formalitäten wurden in aller Stille erledigt. Die Simms besaßen keine engeren Verwandten, niemanden, der ihre privaten Umstände kannte. Philip war ein sehr zurückhaltender Mann. Ein Umzug, ein Stellenwechsel und die Mitteilung an ein, zwei Leute, dass sie einen Sohn bekommen hätten, Marys Schwangerschaft aber wegen der vorherigen medizinischen Schwierigkeiten geheim gehalten hätten, reichten, und man betrachtete Oliver als ihr gemeinsames Kind.
„Und du, Rachel?“, fragte Philip, während er ihr vor dem Umzug beim Packen der Bücher half. „Was wirst du jetzt tun?“
Rachel hatte alles genau geplant. „Ich werde aufs College gehen. Ich möchte Sprachen und Steno und Schreibmaschine lernen.“
Sie bemerkte die Enttäuschung in seinem Gesicht und ahnte den Grund. Philip war überzeugt, dass sie die Universität schaffen könnte, aber dafür brauchte sie Zeit – mehr Zeit, als sie besaß.
„Außerdem muss ich natürlich einen Koch- und Haushaltskursus besuchen – aber nur einen kurzen. Ich werde abends arbeiten, um ihn bezahlen zu können.“
Rachel hatte in den vergangenen Monaten aus den Gesprächen mit Philip und Mary und aus ihrer Lektüre eine Menge gelernt. Sie wusste inzwischen, dass sie für ihre Ziele nicht nur Wissen benötigte, sondern auch Beziehungen brauchte. Und die konnte sie in den exklusiven, außerordentlich teuren Kursen knüpfen, die in ausgewählten privaten
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