Josef und Li: Roman (German Edition)
Bäumen, Ruhe und Frieden. Zumindest schien es auf den ersten Blick so.
Sie machten erst vor dem alten ausladenden Apfelbaum halt, der inmitten des Gartens wuchs, und Tuong beugte sich zu Marta. Aber nicht, um sie schon wieder höflich zu grüßen, sondern um ihr einen Kuss zu geben. Ihr allererster Kuss. Sein Mund war gerade einmal einen knappen Zentimeter von Martas Mund entfernt, als sie plötzlich aufgescheucht zusammenzuckte und ausrief: »Was ist das?« Etwas Kleines und Weiches war vom Baum auf sie heruntergefallen und sie wagte nicht, es anzufassen.
»Eine kleine Maus«, sagte Tuong mit einer ganz ruhigen Stimme und zog die Maus am Schwanz aus ihrem Haar, als ob es etwas vollkommen Normales wäre, jungen Frauen Mäuse aus den Haaren zu ziehen.
»Aaaaaaaaaaaaah!«, kreischte Marta, als sie die Maus sah, und dachte schon, dass sich irgendwo in der Nähe Josef, Vendula oder Li versteckten. Aber keiner von ihnen war da. Nur Helena Bajerová. Sie saß auf dem Baum und tat so, als ob sie gar nicht dort oder ein vergessener Apfel wäre.
»Uiiiiiiiiiiiii!«, kreischte Marta zum zweiten Mal, als sie Helena in der Baumkrone bemerkte.
»Entschuldigung«, raunte Helena, »ich warte hier auf die Katze.« Und es stimmte. Helena wartete im Baum wirklich auf die Katze.
Die Maus hatte sie ihr im Zoogeschäft als Weihnachtsgeschenk gekauft. Sie hoffte nun, sie damit zähmen zu können, denn bis jetzt hatte sie nicht angebissen, also gebissen hatte sie schon, nur ohne den gewünschten Erfolg.
Die Katze verschlang zwar immer eine Konserve, ein Stück Filet oder trank eine Schale Milch, aber sie ließ sich weder streicheln noch auf den Arm nehmen. Und heute spielte sie mit Helena im wahrsten Sinne des Wortes Katz und Maus. Helena hatte die Maus am Schwanz festgehalten und die Katze versteckte sich vor ihr, tauchte wieder auf und schließlich kletterte sie auf den Baum und Helena folgte ihr mit der Maus. Doch dann rutschte ihr der Mäuseschwanz aus der Hand und die Maus fiel Marta auf den Kopf.
Und so endete für diesen Tag sowohl die Zähmung der Katze als auch die von Marta. An dem Nachmittag gab sie Tuong keinen Kuss mehr. Sie sagte, es sei schon spät, wenn schon die Mäuse zu fliegen beginnen, und sie müsse nach Hause, Geschenke einpacken und den Karpfen panieren.
9
Bei den Kličkas sah der Heiligabend wohl genauso aus wie bei allen anderen Familien in Böhmen. Um drei Uhr nachmittags war die Spannung kaum mehr zu ertragen.
Das große Zimmer war schon seit der letzten Nacht abgesperrt und nur Herr Klička und Frau Kličková durften es betreten. Und jedes Mal, wenn sie herauskamen, taten sie so geheimniskrämerisch, als ob sie weiß Gott was gesehen hätten, und ermahnten Josef und Vendula, sie sollten keinen Blödsinn anstellen, denn dadurch würden sie das Jesuskind samt den Engeln vertreiben.
Frau Kličková kam nun mit angehaltenem Atem auf Zehenspitzen aus dem Zimmer und flüsterte aufgeregt Josef und Vendula zu: »Ich glaube, dass sie jeden Augenblick kommen! Also haltet noch ein bisschen durch und seid brav.«
Und auch Herr Klička sah irgendwie besänftigt aus, als er
aus dem Zimmer trat. Einmal hatte er behauptet – da gingen Vendula und Josef noch nicht in die Schule –, ein Dutzend Engel dort herumfliegen zu sehen, so groß wie Brieftauben.
Die Engelchen waren angeblich dabei, den Baum zu schmücken, und zankten sich, ob sie alle Kugeln, Ketten und Schokoladenstücke in Knisterpapier verwenden sollten – was Herrn Klička eher zugesagt hätte, der sich einen Baum wünschte, der nach Möglichkeit bis zur Zimmerdecke reichte und in allen Farben leuchtete – oder ob einfach nur getrocknete Orangen-, Zitronen- oder Apfelscheiben schöner wären, wie es Frau Kličková in einer Zeitschrift gesehen hatte.
Als Josef noch ganz klein war und in der Küche im Hochstuhl am Fenster saß, hatte er auch einen solchen Engel erblickt. Eigentlich sah er nur den Flügelschlag, schnell wie ein Blinzeln, und Josef stellte sich gleich vor, wie der Engel durch die Straßen wie ein silbrig glänzender Flieger segelte und in die Fenster der Häuser hineinblickte.
In einigen Familien isst man zunächst zu Abend und dann erst kommt die Bescherung, und in anderen ist zunächst Bescherung, und erst dann gibt es Abendessen. Es ist aber auch möglich, dass irgendwo nur Bescherung ist, und woanders isst man nur zu Abend, aber solche Familien gibt es nicht viele, oder man spricht nicht von ihnen.
Bei den Kličkas gab es
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