Josef und Li: Roman (German Edition)
rotem Samt ausgelegte Schatulle hinein – sein Geschenk. »Sechs Milliarden Menschen leben auf der Erde und mehr als die Hälfte isst mit Stäbchen. Man weiß nie, wozu die noch gut sind«, sagte Josef und schaute Marta vielsagend an, die ein wenig errötete und gleich anfing, mit den Stäbchen zu essen. Am Anfang ging es nicht besonders, aber jedes Mal, wenn sie aufgeben wollte, blickte Josef sie so streng an, dass sie wieder brav zu den Stäbchen griff. Schließlich bekam sie doch ein paar Happen ab und dann brach sie auf, zur Mitternachtsmesse.
Und was für eine Messe das war! Vor der Kirche wartete Tuong auf sie und aus der Mitternachtsmesse wurde ein Mitternachtsspaziergang.
Auf den Straßen herrschte endlich Ruhe, es flogen keine Mäuse durch die Luft und sie liefen viele lange Stunden durch Prag, fast bis zum Morgengrauen. Aber da schliefen schon alle Kličkas und niemand erfuhr von Martas Spaziergang.
Die Einzige, die in diesem Jahr kein angekokeltes Geschenk von den Kličkas bekam, war Li. Frau Nguyen fand es gleich am Morgen des ersten Weihnachtsfeiertages am Fenster von Lis Zimmer. Es war eine kleine Schachtel, eingewickelt in Seidenpapier. Es war die, die sich neulich in Josefs Tasche beulte.
Li schlief noch und Frau Nguyen brachte ihr das Geschenk ans Bett. Als Li aufwachte und die Schachtel öffnete, wurde sie von einer solch riesigen Freude ergriffen, dass sie schnurstracks aus dem Bett sprang und im Zimmer zu hüpfen und zu jauchzen begann. Und dann schnappte sie sich Frau Nguyen, drückte ihr einen Kuss auf die Wange und zeigte ihr, was in der Schachtel war. Ein Ring! Ein Ring mit einem blauen Stein! Der schönste Ring, den Li je gesehen hatte. Und Frau Nguyen freute sich auch. Sie freute sich, dass Li sich so freute.
Li streifte den Ring über ihren Ringfinger und musste ihn die ganze Zeit anschauen. Und sie zeigte ihn jedem, der zu Besuch kam, und er gefiel auch allen sehr. Herr Tram, ein Freund von Herrn Nguyen, nahm den Ring ans Auge und schaute ihn aus erster Nähe an, als ob er ganz im Steinchen versinken wollte. Und dann sagte er, Li hätte großes Glück, denn der Stein hätte genau die gleiche Farbe wie das Meer am Städtchen Phu Tinh Gia am Morgen, und er wäre im Grunde wie ein winziger versteinerter Ozean. Doch Herr Nguyen wandte ein, dass das Meer am Städchen Phu Tinh Gia überhaupt nicht so blau wäre. Seiner Meinung nach war es viel eher grün und manchmal gräulich, und dass ein solches azurblaues Meer nur in der Nähe der Insel Dao Tching Lan Xon zu finden sei. Und dann diskutierten Herr Nguyen und Herr Tram noch lange, welche Farbe das Meer wo hatte, aber da ging Li schon
hinaus zum Hof und zeigte Herrn Bílek den Ring, dem der Ring auch sehr gefiel, und Frau Háková, die sagte: »So ein Katzengold sieht man nicht alle Tage. Du musst gut auf ihn aufpassen und ihn unbedingt abnehmen, wenn du in der Erde gräbst oder Teig knetest.«
Als Helena Bajerová zusammen mit den Tigerkrallen die Verfolgung von Josef und Li aufnahm, sah sie den Ring nur flüchtig aus dem Augenwinkel. Er blitzte in der Nachmittagssonne auf und Helena krampfte sich das Herz zusammen.
An diesem Tag fielen zarte Schneeflocken und der Sonne gelang es nur manchmal und nur für kurze Zeit, die Wolkendecke zu durchbrechen. Die meiste Zeit des Tages blieb sie aber versteckt und ihre Strahlen, die den milchfarbigen Lichtschirm erleuchteten, waren so schwach wie das absterbende Licht der schwächsten Glühbirne.
Josef und Li ahnten nicht, dass sie von den Tigerkrallen verfolgt wurden. Sie hatten mit Marta alle Hände voll zu tun. Gleich nach dem Mittagessen setzte sich Marta die neue Mütze auf den Kopf, die sie von Frau Kličková geschenkt bekommen hatte, und wollte einen Spaziergang unternehmen. Sie legte diesmal keinen gesteigerten Wert darauf, dass sie Herr Klička begleitete, und schon gar nicht Frau Kličková.
Josef und Li wiederum sagten zu Hause Bescheid, sie würden Olík ausführen, und folgten Marta unauffällig. Aber vielleicht war es auch nur ein Vorwand, gemeinsam hinauszugehen.
Sie verloren Marta gleich zu Anfang, als sie die Seminargärten betrat, aus den Augen. Hinter dem Eingang hatte sich
Tuong versteckt und erschreckte sie mit einem Paff! , sie gaben einander einen Kuss, als ob nichts wäre – aber in Wirklichkeit war einiges –, und verschwanden im Gewirr der Wege, die sich durch den Abhang über dem Tal zogen.
Josef und Li versuchten, sie einzuholen, aber Olík erwischte die falsche
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