Joseph Anton
Hotel in Westlondon von Mike Wallace für die Sendung 60 Minutes interviewen, und beinahe ganz zu Beginn ihres Gesprächs erwähnte Wallace das Ende seiner Beziehung zu Marianne, um dann zu fragen: »Wie halten Sie es nun mit weiblicher Gesellschaft? Oder müssen Sie ein zölibatäres Leben führen?« Diese Frage erwischte ihn kalt, schließlich konnte er Wallace kaum von seiner neuen Liebe erzählen. Er verhaspelte sich kurz, fand aber dann wie durch ein Wunder die richtigen Worte. »Ach«, sagte er, »eine Pause tut auch mal ganz gut.« Mike Wallace wirkte von seiner Antwort derart schockiert, dass er rasch hinzusetzte: »Nein, das meine ich nicht ernst.« War nur Spaß, Mike .
*
Marianne rief an. Sie war wieder zurück aus Amerika. Er wollte mit ihr über Anwälte reden und über ihre Scheidung, sie aber wollte über etwas ganz anderes sprechen. In ihrer Brust war ein Knötchen entdeckt worden, vermutlich Krebs im Frühstadium. Sie war wütend auf ihre Hausärztin, die das schon ›vor sechs Monaten‹ hätte feststellen müssen. Doch nun war es eben da. Sie brauche ihn, sagte sie. Sie liebe ihn immer noch. Drei Tage später meldete sie sich mit noch schlimmeren Nachrichten. Der Krebs war bestätigt: ein Burkitt-Lymphom, eine Krebsart der Non-Hodgkin-Gruppe. Sie konsultierte einen Spezialisten im Chelsea und Westminster Hospital, einen gewissen Dr. Abdul-Ahad. In den nächsten Wochen sollte sie eine Bestrahlung erhalten. Er wusste nicht, was er sagen sollte.
Pauline Melville hatte für Shape-shifter den Guardian Fiction -Preis erhalten. Er rief sie an, um ihr zu gratulieren, sie aber wollte mit ihm über Marianne reden. Sie, Pauline, habe ihr mehrfach angeboten, sie an Behandlungstagen zum Krankenhaus zu begleiten. Ihr Angebot war aber regelmäßig abgelehnt worden. Einige Tage später rief sie wieder an und sagte: »Ich finde, du solltest selbst mal mit diesem Dr. Abdul-Ahad reden.«
Der Onkologe Dr. Abdul-Ahad hatte noch nie von Marianne gehört; er würde auch, fuhr er fort, den fraglichen Krebs nicht behandeln, da er Spezialist für ganz andere Krebsarten sei, vor allem aber für Krebs bei Kindern. Das war verblüffend. Gab es noch einen Dr. Abdul-Ahad? Redete er mit dem falschen?
Es war der Tag, an dem laut Marianne ihre Bestrahlung im Royal Marsden beginnen sollte. Es gab zwei Royal-Marsden-Krankenhäu ser, eines in der Fulham Road, das andere in Sutton. Er rief in beiden an. Man kannte sie nicht. Die Verblüffung wuchs. Vielleicht kam sie unter anderem Namen. Vielleicht benutzte sie auch eine Art Joseph-Anton-Pseudonym. Er hatte ihr helfen wollte, wusste jetzt aber nicht weiter.
Er rief ihre Ärztin an und fragte, ob sie mit ihm reden würde. Er wisse, sie müsse sich an die ärztliche Schweigepflicht halten, doch habe der Onkologe, an den er sich gewandt hatte, gemeint, er solle mit ihr sprechen. »Ich bin froh, dass Sie sich melden«, sagte die Ärztin. »Ich habe den Kontakt mit Marianne verloren – können Sie mir ihre neue Adresse und Telefonnummer geben? Ich würde mich gern mit ihr unterhalten.« Das überraschte ihn. Die Ärztin hatte Marianne seit über einem Jahr nicht gesehen. Sie habe, setzte sie noch hinzu, mit Marianne nie über Krebs gesprochen.
Marianne hörte auf, seine Anrufe entgegenzunehmen. Er sollte nie erfahren, ob sie sich wirklich mit ihrer Ärztin in Verbindung gesetzt oder ob sie eine neue Hausärztin hatte. Sie redeten danach kaum mehr miteinander. Marianne einigte sich mit ihm auf die Scheidung, stellte ein paar finanzielle Forderungen und bat um eine bescheidene Summe, die ihr den Weg ins neue Leben erleichtern sollte. Dann verließ sie London und zog nach Washington, D. C. Von ihrer Krankheit oder einer medizinischen Behandlung hat er nie mehr etwas gehört. Sie lebte und schrieb weiter. Ihre Bücher wurden wohlwollend besprochen und sowohl für den Pulitzer-Preis als auch für den National Book Award nominiert. Er hatte sie stets für eine ausgezeichnete Schriftstellerin gehalten und wünschte ihr alles erdenklich Gute. Von nun an verliefen ihre Leben in getrennten Bahnen und sollten sich nicht mehr kreuzen.
Nein, das stimmte nicht ganz. Einmal kreuzten sie sich noch. Als er sich angreifbar machte, nutzte sie die Gelegenheit und rächte sich.
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Er las Der obszöne Vogel der Nacht , einen Roman des chilenischen Schriftstellers José Donoso über die Zerstörung des eigenen Ichs. In seiner anfälligen Geistesverfassung vielleicht nicht die beste Lektürewahl. Der
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