Judasbrut
Schultern. »Vieles kann ich von zu Hause aus erledigen. Das
Labor … brauche ich im Moment nicht.« Seine Hände lagen in seinem Schoß
und er hatte sichtlich Mühe, sie stillzuhalten. »Wie geht es Meir? Ich durfte
leider nicht persönlich mit ihm telefonieren.«
»Gut«,
antwortete Maria zurückhaltend.
»Ich
weiß, was Sie glauben, aber Sie haben unrecht. Er ist ein guter Junge. Ich kenne
ihn schon sein Leben lang.« Seine Stimme war sehr leise. »Ich würde ihm gern
etwas von seinen Eltern ausrichten. Sie sind verständlicherweise sehr
aufgebracht.«
Maria
verkniff sich die Bemerkung, dass das wohl alle Eltern seien, deren Kind des
Mordes verdächtigt wurde, und sagte stattdessen ausweichend: »Ich lasse Sie
wissen, wann Sie ihn sehen können. Bis dahin können Sie über seinen Anwalt
Herrn Peters Kontakt zu ihm halten.«
Leibl
nickte, schien aber mit seinen Gedanken weit entfernt. Maria wartete, doch
anscheinend fand Leibl, es sei alles gesagt. Sie stand auf. »Ich will Ihre Zeit
nicht länger als notwendig beanspruchen, Professor.«
Leibl
geleitete sie durch den Raum. Neben dem Sideboard blieb Maria stehen und
deutete auf eines der Fotos, das ganz vorne stand und zwei Jugendliche auf der
Treppe dieses Hauses zeigte – sie mit stark toupierter
Föhnwelle, er mit Vokuhila und hochgegelten Stacheln. »Meine Güte, waren das
Frisuren, damals!«
Leibl
schmunzelte. »Jedes Mal, wenn Sara hier ist, stellt sie das Foto ganz weit nach
hinten. Perez holt es immer nach vorn, um sie zu ärgern.«
Maria
hob die Brauen. »War denn Perez kürzlich bei Ihnen? Ich dachte, er sei in Tel
Aviv.«
Es war
möglich, dass sie sich täuschte, denn im Raum war es nicht besonders hell, doch
Maria hatte den Eindruck, der klägliche Rest Farbe, den Professor Leibl noch
gehabt hatte, verschwand gerade völlig aus seinem Gesicht. Sein Adamsapfel
hüpfte auf und ab. »Ja, das ist er … noch
bis zum Ende des Semesters. Manchmal stelle ich selbst die Fotos um. Oder meine
Putzfrau tut es, wenn sie Staub wischt.«
Die
letzten beiden Sätze klangen für Maria ähnlich lahm wie ihre eigene Ausrede,
warum sie plötzlich vor Leibls Tür gestanden hatte. »Es wäre ja auch zu schade,
wenn man einige Fotos nie richtig zu sehen bekäme.« Sie tat so, als bewundere
sie die Bilder und entdeckte das Foto, das Michelle gemeint hatte. Kurzerhand
griff sie danach, um es genauer betrachten zu können. »Ist das Ihre
Schwägerin?«
Leibls
Gesichtsausdruck wandelte sich zu einer Mischung aus Wehmut und Zuneigung.
Beinahe zärtlich berührte er mit den Fingerspitzen den Bilderrahmen. »Tamar war
eine schöne Frau, nicht wahr?« Es war eine schlichte Feststellung, vollkommen
ohne männliche Attitüde. »Sie ist im Januar plötzlich gestorben. Das Haus ist
sehr leer ohne sie.«
Die
Verwunderung über diese Aussage, die sich so sehr nach Liebe anhörte, musste
Maria ins Gesicht gestanden haben, denn Leibl seufzte tief und sagte: »Ich war
noch fast ein Kind, als mein Bruder Tamar in New York kennenlernte und später
heiratete. Sie war die Einzige, die meine … Andersartigkeit erkannte und mich nicht dafür verurteilte, sondern Verständnis
zeigte. Lange Zeit konnte ich nur mit ihr darüber reden. Sie überzeugte meinen
Bruder davon, dass ich deswegen kein schlechter Mensch sei … Damals
in den 50er und 60er Jahren war Homosexualität in den USA noch ein Tabu.« Er
lächelte scheu. »Besonders in meinem Kulturkreis. Wenn jemand davon erfahren
hätte, wäre es eine Tragödie gewesen und ich hätte es nicht ertragen, der Schandfleck
der Familie zu sein.«
»Es war
sicher eine schwere Zeit für Sie.«
Leibl
wirkte in sich gekehrt, beinahe schwermütig. »Tamar war eine großherzige Frau.
Ich war sehr traurig, als sie mit meinem Bruder nach Deutschland ging. Die
beiden standen mir näher als alle anderen Verwandten…«
Verwundert
über seinen plötzlichen Mitteilungsdrang war Maria trotzdem unkonzentriert,
denn ihr war das Gleiche aufgefallen wie Michelle. Die Ähnlichkeit zwischen
Perez Leibl und der Zeichnung konnte einfach kein Zufall sein. Die Haare auf
dem Foto waren länger, doch die Gesichtszüge und vor allem die Stellung der
Augen hatte Isabelle Schad sehr genau getroffen.
Maria
wurde plötzlich mulmig. Ob Sara und Perez im Haus waren?
Leibl
räusperte sich und sein Gesicht hatte Farbe bekommen. »Aber ich will Sie nicht
mit unserer Familiengeschichte langweilen.«
»Nein,
das tun Sie nicht«, widersprach Maria ihm freundlich, während
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