Judastöchter
Chor.
»Kriegt ihr das alleine hin?«, fragte die Mutter und zog einen Zehneuroschein aus dem Mantel, reichte ihn der Tochter. »Ich gehe schon mal zum Auto und lasse es warm laufen. Ihr wisst ja noch, wo wir parken?« Die Freundinnen nickten, und sie ging los.
Hand in Hand liefen die Mädchen zu der Bude, für zwei Euro gab es zwei kleine Waffeln mit Puderzucker obendrauf. Grinsend knusperten sie und betrachteten dabei die immer weniger werdenden Leipziger auf der Eisfläche; kichernd kommentierten sie deren Fahrkünste und die Mode. Trisha gab noch eine Runde Tee aus.
»Ach du Schande«, rief Trisha, nachdem sie auf die Uhr gesehen hatte. »Mama wartet ja auf uns! Kommst du?«
Elena sah auf ihren fast vollen Teebecher. Sie konnte es nicht leiden, im Gehen zu trinken. »Nee. Den trinke ich noch leer. Geh du nur, ich fahre mit der S-Bahn. Meine Tante hat es mir erlaubt.« Nur eine kleine, harmlose Flunkerei, um Trishas Mama zu beruhigen.
»Wir sehen uns morgen in der Schule.« Trisha nickte, nahm ihren Rucksack und lief los.
Elena beobachtete schlürfend weiter. Die letzten beiden Eisläufer gingen von der Bahn, die Buden schlossen ihre Läden, und die Scheinwerfer wurden ausgeschaltet. Es wurde immer dunkler auf dem Platz; nur noch das illuminierte Völkerschlachtdenkmal spendete durch die Reflexionen auf der sandsteinfarbenen Oberfläche Helligkeit.
Tante Sia wird bestimmt ärgerlich sein, aber ich habe noch keine Lust, nach Hause zu gehen.
Endlich hatte Elena den Becher geleert und machte sich in Richtung Straße auf den Weg. Als sie am Rand des Bassins vorbeiging und das zerkratzte, zerfurchte Eis sah, dachte sie an die Erklärungen von Schwester Hildegard über das Erfrieren.
Ihre Schritte wurden langsamer.
Es gab zwei gute Gründe, warum Elena sich mit dem Sterben beschäftigte.
Der eine war die feste Überzeugung, nach dem Tod als Vampirin zurückzukehren und nicht einfach so zu vergehen. Sie würde das Schicksal ihrer Vorfahren teilen. Und als Vampirin bekam sie die vielen Superkräfte, von denen sie gelesen und von denen ihre Tante erzählt hatte. Damit würde sie ihre Mutter vor allen Gefahren, die noch lauerten, beschützen können.
Der andere war, dass sich Sia standhaft weigerte, ihre Ausbildung zu Lebzeiten zu beginnen.
Aber wenn ich zu einer Vampirin geworden bin, bleibt ihr gar keine andere Wahl mehr.
Eine Luftblase huschte unter dem klaren Eis hindurch.
Dass sie sich selbst umbringen würde, das hatte sie am dritten Tag im Krankenhaus beschlossen, als ihr klarwurde, wie wenig sie als Kind gegen Bedrohungen ausrichten konnte; als Vampirin dagegen … Aber sie hielt den Entschluss vor ihrer Tante geheim. Schwester Hildegard hatte wohl geplaudert, und vorhin, im Krankenhaus, hatte Elena Angst gehabt, dass Sia sie darauf ansprechen wollte. Die Unterredung war zum Glück ausgeblieben.
Die Frage nach der Methode des Selbstmords hatte sie noch nicht entschieden. Ihr Körper musste dabei intakt bleiben. Also flog alles von ihrer Todesliste, was Schaden zufügte, wie vor den Zug werfen oder von hohen Gebäuden springen oder sich vom Auto überfahren lassen. Sobald das Genick gebrochen oder der Kopf abgetrennt war, würde sich die Wandlung nicht vollziehen, und sie wäre einfach nur – tot. Es blieben zwar noch viele andere Möglichkeiten, doch hatte Elena Angst vor den Schmerzen.
Erfrieren ist wie Einschlafen.
Sie legte die nackte Hand aufs Eis.
Im Wasser müsste es noch schneller gehen.
Vorhin, als Elena Runden auf dem Eis zog, hatte sie sich Gedanken dazu gemacht. Zuerst hatte sie vorgehabt, sich in die Kühlzelle einer Metzgerei oder eines Restaurants zu schleichen, aber da war die Gefahr einer vorzeitigen Entdeckung sehr hoch. Leider kannte sie niemanden, der eine Kühltruhe besaß, in die sie hineingepasst hätte. Ihre Freundinnen hatten alle moderne Kühlschränke mit Mini-Gefrierfächern.
Soll es heute sein? Hier?
Ihr Herz pochte unvermittelt vor Aufregung. Sie setzte sich auf die Einfassung und nahm das Handy heraus. Einen Anruf hatte sie verpasst, es war die Nummer ihrer Tante. Elena rief zurück. »Hallo, ich bin’s«, rief sie.
»Kind, wo steckst du denn?«, sagte Sia ungehalten. »War unsere Abmachung nicht, dass du um sechs im Krankenhaus sein solltest?«
»Ja, Tante Sia. Ich bin schon auf dem Weg.« Sie hob aus einem unbestimmbaren Gefühl den Blick und sah zum Denkmal, zum Eingang in die Krypta. Der Scheinwerfer beleuchtete nicht nur den Eingang – sondern auch einen
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