Judastöchter
Eric stand davor, gekleidet in die Livree eines Angestellten des Manorhouse. Er deutete auf die Tröpfchenblutspur. »Ich komme zu spät. Madame haben schon abgeräumt?« Er musste lachen. »Das war ja mal ein interessantes Gespräch. Gute Idee, das Handy zur Wanze umzufunktionieren.«
Der Anzug ist ihm ein bisschen zu klein. Zu viele Muskeln.
Sia musste ihm zugestehen, dass er Humor besaß und improvisieren konnte. »Danke für das Lob.« Sie zog ihn herein. »Was sagen Sie dazu?«
»Dass Sie die Drecksarbeit machen sollen. Und
vierzig!
Vierzig
verschiedene
Wandler! Bei allem Respekt, das wird selbst für eine Judastochter eine ganz schöne Plackerei.« Er setzte sich auf den Platz, auf dem Smyle gesessen hatte. Die Nähte der Livreejacke spannten sich. »Glücklicherweise sind Sie nicht alleine. Ich kann mich so richtig unter dem Wandlerpack austoben.« Er griff nach der die Liste und überflog sie. »Selkies? Sind das nicht Seekühe?«
»Irgend so etwas. Aber ich habe nicht vor, meine Aufgabe zu erfüllen.«
Eric schaute vom Zettel auf. »Das dachte ich mir schon. Es geht gegen Ihren Stolz. Und eine Garantie, dass Sie Ihre Schwester und Nichte zurückbekommen, die gibt Ihnen auch keiner.«
»Ganz recht.«
Keine Garantie.
Sia betrachtete die Blutspur des Vampirs. »Sie werden sich um die Liste kümmern, Eric. Ich werde losziehen und Informationen zu den Sídhe sammeln, bis ich genug zusammengetragen habe, um meine Familie befreien zu können.« Ihr Gesicht nahm einen verächtlichen Ausdruck an. »Kann gut sein, dass es danach keinen Smyle und keine Sídhe mehr auf Irland gibt.«
»Oh, ein großer Plan. Er gefällt mir.« Eric tauchte nach der Minibar neben sich. »Können wir uns darauf einigen, dass wir anfangs gemeinsam auf die Jagd gehen? Damit Sie sehen, wie mühsam es ist?« Er nahm sich eine Cola raus, öffnete sie und nahm einen Schluck. »Gott, bin ich müde.«
Sia hatte total vergessen, dass er stundenlang gefahren war; das kurze Nickerchen im Tunnel hatte nicht lange vorgehalten. »Dann legen Sie sich hin. Morgen Abend geht es für uns beide weiter.«
Er nickte. »Ich werde Sie beschatten, bis Sie mit diesem U-Boot in See gestochen sind, danach fahre ich mit einer Fähre weiter. Sie müssten mir sagen, wo wir uns in Irland treffen.«
»Ich melde mich, sobald ich auf festem Land stehe.«
»Alles klar.« Eric erhob sich und ging dicht an ihr vorbei zur Tür.
Er riecht gut!
Sia ertappte sich bei der Erinnerung an Leipzig, als sie ihn nackt gesehen hatte. Mit allem, was er einer Frau zu bieten
hatte.
Mein letztes Mal ist schon verdammt lange her.
Sie sah ihm nach.
Warum nicht mit ihm?
Sie seufzte, ihr Blick fiel auf die Liste. Und den Chip.
Erst die Arbeit, dann irgendwann ein bisschen Vergnügen und Ablenkung. Dampf ablassen.
Sia nahm die Speicherkarte und schob sie in den Leseschlitz des Netbooks. Die digitalen Bilder ließ sie von der Diashow des Abspielprogramms anzeigen. Alle vier Sekunden das nächste Gesicht: Alte und Junge, Hübsche und Hässliche, Dünne und Dicke – die Wandler hielten alles parat.
Aber das Animalische in ihnen konnten sie nicht gänzlich verbergen. Etwas an ihnen zeigte die Bestie, die ihnen eigen war: kräftige Zähne oder dichte Brauen, ein Glitzern in den Augen oder besonders auffällige Züge, die nicht hübsch zu nennen waren, aber einem Model gut standen.
Sia verbot sich jeglichen Gedanken an deren Familien, deren Freunde, deren Leben. Smyles Einschätzung war richtig gewesen: Um Emma und Elena zu retten, würde sie in der Tat töten.
Hundertfach. Tausendfach.
Die folgenden Stunden verbrachte Sia damit, sich alle Gesichter einzuprägen. Keiner der Wandler sollte sie überraschen können.
* * *
4. Februar, Großbritannien,
Nordküste von Wales, 23.51 Uhr
Sia war von Smyle abgeholt worden. Da der Vampir ihre Schwäche kannte, hatte er eine sichere Strecke nach Wales ausgesucht, abseits von Gewässern. Er hatte ihr eine Bedienungsanleitung für das U-Boot gereicht, die sie unverzüglich zu lesen begann. Sie wechselten auf der Fahrt kein Wort.
Sia achtete darauf, ob sie verfolgt wurden.
Entweder Eric beherrscht das Spiel sehr gut, oder Smyle hat ihn wirklich abgehängt.
Im Rückspiegel suchte sie die kalten, blauen Scheinwerfer des X6 vergebens.
Bald stiegen sie in einen Jeep um, und es ging querfeldein; schließlich hielten sie abseits aller Wege an einer Steilküste. Zu Fuß folgten sie einem Pfad, der parallel zum Meer verlief. Er führte scheinbar ins
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