Judith
«
»Man hat dich in einem dunklen Loch gehalten… «
»Ja, über die ganze Zeit… «
»Aber du siehst nicht elend und verhungert aus. Hat man… «
»Nein, Ju-… sie hat durch ihre Magd Essen geschickt. «
Stephen sah auf den halb zusammengestürzten Turm, während er sagte: »Sie hat viel Mut gehabt, hierher zu kommen. Viel riskiert. «
»Sie hat gar nichts riskiert! Sie war ebenso verrückt nach ihm, wie er nach ihr. «
»Den Eindruck hatte ich nicht, als ich mit ihr sprach. «
»Dann hast du dich geirrt«, knurrte Gavin.
Stephen zuckte die Achseln. »Das ist allein eure Sache. Raine hat mir gesagt, daß man euch beide an den Hof des Königs bestellt hat. Wir können die Reise gemeinsam antreten. Ich soll auch dorthin. «
Gavin war müde und sehnte sich nach nichts anderem als einem weichen Lager. »Was will der König von uns? «
»Er möchte dein Eheweib kennenlernen, und mir will er eine Heiratskandidatin vorstellen. «
»Du sollst heiraten? «
»Ja, eine reiche Schottin, die alles haßt, was englisch ist. «
«Oh, ich weiß, wie es ist, vom eigenen Weib gehaßt zu werden«, murmelte Gavin.
Stephen grinste. »Der Unterschied ist nur, daß es dir was ausmacht, mir aber nicht. Wenn sie sich nicht so verhält wie ich will, werde ich sie sitzen lassen, und sie wird mich nie wieder zu Gesicht bekommen. Ich werde behaupten, daß sie unfruchtbar ist und einen Sohn adoptieren, der ihren Besitz erben wird. Warum tust du das nicht auch mit deiner Frau, wenn sie dich so wütend macht? «
»Ich soll sie nie Wiedersehen! « entfuhr es Gavin. Er riß sich sofort zusammen, als er Stephen lachen hörte.
»Sie bringt dein Blut in Wallung, nicht wahr? Du brauchst es mir nicht erst zu sagen. Ich habe sie gesehen. «
»Sie hat dich ebenso getäuscht wie Raine und Miles«, meinte Gavin und verzog wie im Ekel das Gesicht. »Die beiden bekommen Kuhaugen, wenn sie sie sehen. «
»Da fällt mir ein… was willst du mit John Bassett machen und… «
»Er soll sie heiraten. Wenn Lady Helen wie ihre Tochter ist, wird er die Hölle auf Erden bekommen. Da hat er genug Strafe für sein unüberlegtes Handeln. «
Stephen wollte sich vor Lachen ausschütten.
Gavin erhob sich. »Ich will jetzt hier fort! « drängte er.
Judith war mit den Männern in das Lager zurückgekehrt, das Gavin am anderen Ende des Tales vor Demaris Burg aufgeschlagen hatte.
Um ihrer quälenden inneren Unruhe zu entkommen, hatte sie sich von den anderen entfernt und schlenderte durch den in der Nähe des Lagers liegenden Wald.
Erst jetzt wurde es ihr bewußt, unter welcher Anspannung sie in den vergangenen Tagen gelebt hatte, ganz zu schweigen von der Angst, die sie hatte unterdrücken müssen.
Judith ließ sich am grasigen Ufer eines Baches nieder und; genoß den Frieden der Natur.
Eine Stimme ließ sie plötzlich auffahren. »Darf ich dich in dieser Idylle stören? «
Es war Raine, der lächelnd auf sie herabblickte. Er ließ sich sofort neben ihr nieder, als sie ihn mit einer Handbewegung dazu aufforderte.
»Ich hatte gehofft, daß zwischen euch beiden endlich Harmonie herrscht. Doch das war wohl ein Irrtum«, begann Raine. »Warum hast du Demari getötet? «
»Weil es nur die einzige Möglichkeit gab«, antwortete Judith mit gesenktem Kopf. Als sie wieder aufblickte, glänzten Tränen in ihren Augen. »Es war schrecklich. «
Raine zuckte die Schultern. »Manchmal muß man es tun. Und Gavin? Hat er dir das nicht auch gesagt? Hat er dich nicht beruhigt? «
»Er hat mit mir kaum ein Wort gewechselt seitdem«, sagte sie ruhig. »Laß uns von etwas anderem reden. Ist dein Bein besser? «
Raine wollte gerade antworten, als ein Lachen an ihre Ohren klang. Helen und John spazierten am Bach entlang. Judith wollte ihre Mutter ansprechen, doch Raine hielt sie zurück.
Judith beobachtete dann überrascht, wie sich John und ihre Mutter in die Arme sanken. Von dem Liebesgeflüster der beiden verstand sie nicht viel.
»Das wußte ich nicht«, murmelte sie, als die beiden sich entfernt hatten.
Raine grinste. »Solche Dinge passieren. Gavin hat für deine Mutter einen neuen Ehemann gefunden, der ihr Bett wärmt. «
Wütend fuhr Judith zu ihm herum. Ihre goldenen Augen blitzten. »Der ihr das Bett wärmt! Habt ihr Männer immer nur das im Sinn? «
Raine sah sie bewundernd an. Sein Herz schlug ihr entgegen. »An was soll man sonst bei einer Frau denken«, meinte er. Dann erhob er sich abrupt. »Ich muß gehen. Kommst du mit zurück? «
»Nein,
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