Judith
sprach schnell weiter, ehe er aufbrausen konnte: »Hast du sie schon einmal gesehen? «
»Nein! « Stephen schob sich eine Beere in den Mund. »Und noch ist sie nicht mein Weib. Ihr Vater hat sie zum Laird über den MacArran Clan gemacht, bevor er starb. «
»Eine Frau herrscht über das Erbe? « Judiths Blick richtete sich in unbestimmte Ferne.
»Ja«, brummte Stephen voller Abscheu.
»Du weißt also nicht einmal, ob sie schön ist… «
»Sie wird eine fette Wachtel sein oder häßlich wie die Sünde und mürrisch wie eine alte Vettel. «
Judith mußte bei seinem grimmigen Gesicht lachen. »Du bist so ganz anders als deine Brüder. «
Stephen sah sie an. »Als Junge hatte ich es nicht leicht. Miles und Raine hingen wie Kletten zusammen. Gavin mußte sich um das Erbe kümmern. Und ich… «
»Du warst immer allein. «
Er schüttelte unwillig den Kopf. »Du scheinst mich zu verhexen. Ich erzähle dir mehr als ich will. «
»Wenn diese Erbin nicht nett zu dir ist, kratze ich ihr die Augen aus«, erklärte Judith.
Stephen mußte lachen, und Judith stimmte in dieses Lachen ein. So fand sie Gavin.
»Warum entfernst du dich vom Lager, ohne mir etwas zu sagen? « fuhr er Judith an. Er setzte sich neben sie und nahm sich eine Handvoll von den Früchten, die sie gesammelt hatte.
»Auf so vorwurfsvolle Fragen gebe ich keine Antwort«, antwortete Judith ruhig. »Sind wir morgen in London? «
Bewunderung lag in Gavins Blick. »Geschickt abgelenkt, du kleine Hexe. Hast du wirklich Bedenken wegen der schönen Frauen bei Hofe? « Er lachte.
Judith blieb ernst. »Nur wegen einer. Sie hat uns schon einmal auseinandergebracht. Sie soll nicht… «
Gavins Gesicht wurde hart. »Hör auf, von ihr zu reden. Ich habe dich anständig behandelt, dir keine Vorwürfe wegen Demari gemacht. Und jetzt willst du auch noch meine Seele. «
»Die gehört ihr? « fragte Judith ruhig.
Gavin sah sie an. Ihre goldenen Augen leuchteten, ihre Haut war so weich und verführerisch. Die leidenschaftlichen Stunden der vergangenen Nacht fielen ihm ein.
»Frag mich nicht«, murmelte er. »Ich weiß nur eines sicher: daß mir meine Seele nicht mehr gehört. «
Das erste, was Judith an London unangenehm auffiel, war der Schmutz. In den Gossen häufte sich der Unrat. Schweine und Ratten wühlten darin herum. Die Häuser aus Holz oder Stein standen so dicht zusammen, daß kaum frische Luft oder Sonnenlicht herankam. Sie waren bis zu vier Stockwerken hoch. Das Entsetzen mußte Judith ins Gesicht geschrieben sein, denn Gavin und Stephen sahen es und lachten.
»Willkommen in der Stadt unseres Königs«, meinte Stephen trocken.
Als sie dann in den Mauern von Winchester waren, fanden sie nicht mehr soviel Schmutz vor. Ein Mann kam, um ihnen die Pferde abzunehmen. Gavin half Judith aus dem Sattel. Und sie machte sich gleich daran, die Wagen mit dem Gepäck und den Möbeln zu überprüfen.
»Nein! « Gavin hielt sie zurück. »Der König wird sicherlich schon von unserer Ankunft gehört haben und nicht gern so lange warten, bis du alles geordnet hast. «
»So soll ich vor den König treten? « Judith hatte sich zwar am Morgen sorgfältig angekleidet. Sie trug eine dunkelbraune Tunika und darüber ein Kleid aus leuchtend gelbem Samt. Die weiten Ärmel waren mit Zobel besetzt.
»Du siehst großartig aus«, versicherte ihr Gavin. »Komm, ich möchte dich jetzt dem König zeigen. «
Judiths Herz klopfte unruhig. Sie wußte nicht, was sie erwarten würde. Aber die große Halle hatte sie sich in einem Königshof anders vorgestellt. Alles war schlicht und einfach. Frauen und Männer saßen herum, spielten Schach und andere Spiele oder unterhielten sich. Drei Damen hatten sich zu Füßen eines Mannes niedergelassen, der auf einem Psalter spielte. Judith konnte den König nirgends sehen. Sie war deshalb erstaunt, als Gavin vor einen schlicht gekleideten Mann trat. Er hatte kleine blaue Augen und schütteres Haar und sah sehr müde aus. Doch sie erholte sich schnell von ihrer Überraschung und machte einen tiefen Knicks. König Henry ergriff ihre Hand.
»Komm ins Licht und laß dich ansehen. Ich habe schon viel von deiner Schönheit gehört. « Er überragte sie an Größe, als er sie ein Stück durch die Halle führte. »Du bist wirklich ein schönes Weib«, meinte er. »Sieh sie dir an, Bess. Das ist Lady Judith, Gavins Frau. «
Judith drehte sich um und sah eine hübsche Dame mittleren Alters vor sich. Wenn sie Henry auch kaum für den König gehalten
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