JULIA COLLECTION Band 14
seine ständige Kritisiererei über viele Jahre.
Rosemary wusste genau, dass sie und Willis sich da in nichts nachstanden. Sie hatten sich gegenseitig gequält, als sie Kinder gewesen waren. Aber solche Verletzungen konnten sich einem Kind stark einprägen, und vermutlich musste man eine stärkere Persönlichkeit sein als sie oder Willis, um solche Schwierigkeiten zu überwinden und Freunde zu werden.
Deshalb hatte sie auch kein Recht, ihm vorzuwerfen, sie versetzt zu haben. Wäre sie an seiner Stelle gewesen, hätte sie also zugesagt, mit ihm zu essen, und dann irgendetwas oder irgendjemand Interessanteres getroffen, dann hätte sie wahrscheinlich ganz genauso gehandelt.
Aber warum war sie dann so wütend? Warum fühlte sie sich beleidigt und verletzt?
Die Haustür ging auf, bevor Rosemary sich noch diese Fragen beantworten konnte. Sie zwang sich zur Ruhe, und als Willis mit einem breiten Lächeln den Kopf durch die Küchentür steckte, war ihr Puls beinahe wieder normal. Als er sie erblickte, wurde er sofort wieder ernst.
Sie hatte ihn noch nie lächeln sehen, als Kind schon gar nicht. Wo auch immer er heute Abend gewesen war, er hatte sich offensichtlich gut amüsiert. Sie fühlte sich auf einmal fürchterlich einsam.
Er bemerkte, was in ihr vorging. „Du hast auf mich mit dem Essen gewartet, was?“
Sie zuckte mit den Schultern und sah ihn nicht an. „Warum sollte ich? Nur weil du sagtest, du kämst zum Essen? Das allein ist doch kein Grund.“ Sie ärgerte sich, dass ihre Antwort so bitter klang, aber sie hatte ihn nun mal erwartet. Und es hatte sie verletzt, dass er noch nicht einmal telefonisch abgesagt hatte.
„Ich hatte nicht fest zugesagt“, erinnerte er sie.
Sie zuckte wieder mit den Schultern, aber sie wusste, sie wirkte nicht überzeugend. „Okay. Du hattest nicht fest zugesagt. Mein Fehler. Tut mir leid.“
„Ich habe nämlich in der Stadt zufällig Mr. Jamiolkowski getroffen, du erinnerst dich, unseren Physiklehrer. Ach, nein, du hattest Physik ja nicht bei ihm belegt, dazu musste man ja die Leistungskurse besucht haben.“
Sie sah zu Boden. Als ob sie das je hätte vergessen können. „Nein“, sagte sie leise. „Ich hatte stattdessen Ernährungslehre belegt. Schon während des Chemieunterrichts hatte ich gemerkt, wo meine Grenzen waren.“
„Nun, wie dem auch sei“, Willis hatte offensichtlich überhaupt nicht zugehört, „er und ich, wir haben uns immer sehr gut verstanden und sogar noch während meiner ersten zwei Jahre auf der Universität miteinander korrespondiert. Es war sehr schön, ihn wiederzusehen, und wir haben dann auch zusammen gegessen.“
„Gut“, sagte Rosemary nur.
„Er arbeitet an einem tollen Projekt“, fuhr Willis fort, ohne auf sie zu achten, „an etwas wirklich Revolutionärem. Leider kann er ja nur in den drei Monaten während der Sommerferien wissenschaftlich arbeiten. Ich habe keine Ahnung, warum er sich immer noch mit der Highschool abgibt. Er ist ein toller Wissenschaftler, und es ist ein Jammer, dass er seine Begabung so vergeudet.“
Bei dem abschätzigen Ton seiner Stimme hob Rosemary den Kopf. „Du bist also der Meinung, Kinder zu unterrichten sei reine Zeitvergeudung?“
Er sah sie so fassungslos an, als hätte sie ihn aufgefordert, den Schierlingsbecher zu trinken. „Selbstverständlich, wenn einer so eindeutig das Zeug zu einer wissenschaftlichen Karriere hat.“
„Vielleicht hat Mr. Jamiolkowski die Einstellung, dass es weit sinnvoller ist, junge Menschen zu formen, als irgendwo in einer Denkfabrik eingeschlossen zu sein.“
Willis schüttelte den Kopf und lachte leise. „Was für eine absurde Vorstellung.“
„Vielleicht ist er gern Lehrer, Willis. Vielleicht hält er es für wichtiger, sich für die Ausbildung von Kindern einzusetzen, als in irgendeinem sterilen Labor zu seiner eigenen Befriedigung vor sich hin zu forschen. Vielleicht ist es ihm auch egal, wie Leute wie du darüber denken. Vielleicht macht ihm gerade das Unterrichten Spaß und nicht die wissenschaftliche Forschung.“
„Das ist einfach lächerlich“, sagte Willis. „Warum sollte ein brillanter Kopf wie er sich für etwas anderes als Forschung interessieren?“
Sie schüttelte langsam den Kopf. „Du begreifst es tatsächlich nicht.“
„Was?“
Sie sah ihn einen Moment schweigend an und seufzte dann leise. „Lass nur. Für einen Mann mit deinem Intelligenzquotienten musst du noch eine ganze Menge lernen.“
„Oh, vielen Dank. Ich werde mir deinen
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