JULIA COLLECTION Band 16
sie zu so tiefen Gefühlen fähig war. Eric war ein winziges, hilfloses kleines Bündel Liebe, und er rührte ihr Herz auf eine nie gekannte Art. Er war ihre ganze Welt, bis …
„Sally?“, Aidan flüsterte nur, als fürchtete er, sie zu erschrecken. „Was ist passiert?“
Sie schloss nochmals die Augen, um sich gegen den Schmerz der Erinnerung zu wappnen, aber jetzt sah sie die Bilder von damals nur noch deutlicher, noch schärfer. „Er war fünf Monate alt. Eines Morgens wachte er nicht auf. Ich schlief bis neun Uhr durch, und als ich dann aufwachte, dachte ich noch: Toll. Er schläft die ganze Nacht durch. Jetzt wird das Leben endlich ein bisschen einfacher werden.“ Sie biss sich auf die Unterlippe, sah Aidan in die Augen und sagte: „Ich ging zu ihm hinein und sagte: ‚Guten Morgen, du kleine Schlafmütze‘, und dann berührte ich ihn.“ Sie war wieder in der sonnigen Wohnung, und sie spürte die sanfte Brise, die durch das leicht geöffnete Fenster in Erics Kinderzimmer drang. Sie hörte wieder das leise Klingeln des Windspiels, und sie sah ihr Baby. „Er bewegte sich nicht. Rührte sich überhaupt nicht.“
„Oh Gott …“
Sie schluckte mühsam, aber der Kloß in ihrem Hals wollte nicht verschwinden. „Ich erinnere mich noch, wie ich dachte: Das ist ja komisch. Und dann beugte ich mich über ihn, um ihn zu küssen. Er war ganz kalt.“
„Sally …“
Sie gab sich einen Ruck, um aus der Vergangenheit wieder in die Gegenwart zu kommen. Sie konnte nicht mehr länger dort bleiben und den Rest noch einmal durchleben – ihre hysterischen Tränen, die Hilfeschreie, die Sirenen der Feuerwehr, die Polizisten und ihre Nachbarn, die sie alle voller Mitleid ansahen. Auch sie hatten Tränen und Entsetzen in den Augen gehabt.
„Der Arzt redete vom plötzlichen Kindstod. Es konnte nichts getan werden. Eric ist während der Nacht einfach … davongehuscht.“
„Himmel, Sally. Es tut mir so leid.“
„Ich weiß …“
Er küsste sie und schmeckte die Tränen auf ihren Wangen. Sie spürte das Klopfen seines Herzens, seine Stärke, den Trost, den er ihr gab, und sie ließ sich von ihm aus der Vergangenheit in die Gegenwart zurückholen, die mit Leidenschaft und Leben erfüllt war.
Dann hob Aidan plötzlich den Kopf und sah Sally entsetzt an.
„Was ist?“
„Ich kann nicht glauben, dass ich das … dass wir … Es ist mir noch nie passiert, wirklich.“
„Was denn?“
„Das Gespräch über Eric hat mich darauf gebracht. Wir haben kein Kondom benutzt, Sally. Beide Male nicht.“ Er schloss stöhnend die Augen. „Und jetzt, da ich weiß, was ich weiß, kann ich nicht fassen, dass ich dich das Risiko eingehen ließ.“
„Beruhige dich, Aidan.“ Sie legte ihm einen Finger auf den Mund. Ihr Herz klopfte wild. Sie hatte auch keinen Moment an Verhütung gedacht, und vor allem sie hätte es eigentlich besser wissen sollen. Aber das war jetzt nicht wichtig.
„Ich nehme die Pille.“
Er lehnte die Stirn an ihre. „Das ist gut.“ Dann sah er sie wieder an. „Mit mir ist alles in Ordnung, du brauchst dir also deswegen keine Sorgen zu machen. Ich bin ein vorsichtiger Mann.“
„Das ist gut zu wissen“, sagte sie leise und nahm sein Gesicht zwischen beide Hände. Der Ausdruck in seinen dunkelblauen Augen war so lieb, so verständnisvoll, dass es ihr die Kehle zuschnürte. Im Moment wollte sie nichts anderes als wieder das wundervolle Gefühl erleben, am Leben zu sein und diesen Mann in sich zu spüren.
„Ich bin auch gesund“, versicherte sie ihm und streichelte seine Wange. „Und ich wünsche mir nur, dass du wieder mit mir schläfst, Aidan. Und noch etwas, Aidan …“
„Ja?“
„Meinetwegen brauchst du nicht allzu vorsichtig zu sein.“
10. KAPITEL
Die folgenden Tage vergingen wie im Flug. Die größte Wucht des Hurrikans verschonte Baywater. Er bewegte sich stattdessen an der Küste entlang und verursachte starke Winde und sintflutartige Regenfälle, aber der kleinen Stadt blieb die drohende Katastrophe erspart.
Trotzdem gab es viel aufzuräumen, nachdem alles vorbei war. Aidans Team war unermüdlich damit beschäftigt, der Polizei und der Feuerwehr zu helfen. Aidan vergewisserte sich, dass es seiner Familie gut ging, hatte aber keine Zeit gehabt, sich mit seinen Brüdern zu treffen. Erst an diesem Abend fand er eine kleine Atempause zwischen seinen regulären Pflichten und den Einsätzen mit dem Rettungsteam. Denn jede sonstige freie Minute verbrachte er mit Sally.
Er schien
Weitere Kostenlose Bücher