JULIA COLLECTION Band 17
Abend, oder wann immer sich die nächste Gelegenheit bot, würde er sie wieder erschöpfen.
Leise stand er auf und schlich auf Zehenspitzen durch den großen Raum, um die Vorhänge zu schließen. Als sein Blickauf den Empfänger des Babyfons fiel, ging ihm auf, dass er sich um Becky kümmern musste, bevor sie zu weinen begann und Hannah aus dem Bett sprang.
Rasch zog er sich an, nahm den Empfänger und ging über den Flur ins Zimmer seiner Tochter. Sie begrüßte ihn mit einem ungeduldigen Krähen. Er fütterte sie, wechselte die Windel und beschäftigte sich mit ihr. Etwa anderthalb Stunden nachdem er gekommen war, ließ sie sich anstandslos ins Bett legen und schlief sofort ein.
Auf dem Flur blieb er unschlüssig stehen. Was sollte er tun? Wenn er den Empfänger ins Schlafzimmer legte, konnte es sein, dass Beckys Weinen Hannah weckte, bevor sie ausgeschlafen hatte.
Aber wenn er ihn mit nach unten nahm und Hannah allein erwachte, würde sie sich als Erstes nach dem Empfänger umschauen. Und wenn sie ihn nicht fand, würde sie in Panik geraten und zu Becky rennen.
Hannah sollte sich ausruhen – und keinen Herzinfarkt bekommen.
Er beschloss, ihr eine Nachricht zu hinterlassen, also setzte er sich an den Schreibtisch im Wohnzimmer und schrieb ihr ein paar Zeilen. Hannah schlief noch fest, als er den Empfänger zurücklegte und den Zettel darunterklemmte.
Und heute Abend, wenn er Hannah nicht schlafen ließ, würde er wenigstens kein so schlechtes Gewissen haben.
Cord ging nach unten, duschte und rasierte sich. Er zog sich an und ließ sich das Frühstück in sein Büro bringen. Es war noch früh. Audrey Caseman, seine Sekretärin, und die vier anderen Mitarbeiter waren noch nicht da.
Pünktlich um halb neun erschien Audrey, eine ältere Frau mit stahlgrauem Haar und einem großmütterlichen Lächeln, und fragte ihn, ob er etwas zu diktieren hatte. Er wollte sie gerade bitten, ihren Block zu holen, da läutete das Telefon.
Es war sein Vater. „Ich berufe den Familienrat ein“, sagte Caine Stockwell ohne Vorrede. „Hol die anderen zusammen, und bring sie zu mir.“
Was war los? So klar hatte der alte Herr seit Wochen nicht mehr geklungen.
„Bist du da, Cord? Hörst du mich?“
„Ja, Dad, ich höre dich.“
Caine gab ein dumpfes Geräusch von sich, das an ein entferntes Donnergrollen erinnerte. „Dann kommt her. Sofort!“
„Geht es dir … gut?“
„Gut?“, knurrte sein Vater. „Du fragst mich, ob es mir gut geht?“
Cord schwieg.
„Nein, verdammt. Es geht mir nicht gut. Ich habe Krebs im Endstadium und werde bald sterben. Deshalb will ich, dass du und deine Geschwister zu mir kommt. Sofort. Ich habe euch etwas zu sagen. Ist das klar, Cord?“
„Ja.“ Er legte auf.
Audrey wartete noch immer in der Tür.
„Tut mir leid“, sagte Cord zu ihr. „Das Diktat wird warten müssen.“
Sie nickte nur, zog sich zurück und schloss die Tür hinter sich.
Cord rief seine Geschwister an, und wenige Minuten später standen sie alle am Bett ihres Vaters.
„Hört mir zu“, begann Caine Stockwell. „Mehr verlange ich nicht.“ Mit rot geränderten Augen sah er Jack an.
Jack sagte nichts, wich dem Blick aber auch nicht aus.
„Es gibt da etwas, das mich zerfrisst – zusammen mit dem Krebs. Ich wollte es niemandem erzählen, schon gar nicht euch.“ Er lachte keuchend. „Schätze, ich bin weichherziger, als ich dachte. Oder es liegt daran, dass ich alt bin und will, dass meine Familie mich in Sicherheit überleben kann. Und das gilt für alle. Egal, was sie getan haben oder wo sie sich im Moment herumtreiben.“
Cord starrte auf seine knochigen Hände und hustete. „Es geht um eure Mutter“, fuhr er fort und holte rasselnd Luft.
Wie seine Geschwister stand Cord reglos da.
Caine Stockwell grinste triumphierend. „Wie ich sehe, hört ihr mir endlich einmal zu.“ Die Spannung stieg, während er mit den Schultern zuckte. „Eure Mutter ist nicht im Teich ertrunken.“
Cord hörte einen Aufschrei – es war Kates. Seine Brüder bewegten sich nicht. Sie alle hatten ihre Zweifel an der offiziellen Version, aber sie hatten nicht erwartet, die Wahrheit ausgerechnet aus dem Mund ihres Vaters zu erfahren.
„Madelyn ist nicht ertrunken“, sagte Caine. „Das habe ich nur erzählt, damit niemand auf die Idee kam, nach ihr zu suchen. Nein, sie ist nicht ertrunken. Und Brandon auch nicht. Die beiden sind durchgebrannt. Im nächsten Monat ist es genau neunundzwanzig Jahre her.“
Er tobte nicht,
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