JULIA COLLECTION Band 20
zurückgelassen. An den Schneeanzug hatte sie einen Zettel geheftet, auf dem stand: „Ihr Name ist Daisy, und ich kann sie nicht behalten.“ Kurz darauf war Daisy adoptiert worden, aber das war auch nicht lange gut gegangen.
Kells Stimme nahm wieder diesen tiefen, samtigen Tonfall an: „Wie geht es Ihnen jetzt? Tut der Arm noch weh? Und Ihr Bein? Schmerzt es?“
Daisy war klar, dass er sich bei ihr einschmeicheln wollte, damit sie ihn das ganze Haus durchstöbern ließ, bis er irgendetwas fand, das er als Aufhänger verwenden konnte, um Ansprüche an die Erbschaft zu stellen und sich mit der Historischen Gesellschaft um Harveys Hinterlassenschaft zu streiten.
Sie richtete sich auf. Anscheinend war sie wirklich sehr müde. Zwei Unfälle an einem Tag, das war ihr noch nie passiert. „Mir geht’s gut, vielen Dank.“
Skeptisch schaute Kell ihr in die Augen und hängte das Geschirrtuch auf.
Daisy wich seinem Blick aus und betrachtete seine Hände, die das Tuch auf der Trockenstange fast militärisch genau ausrichteten. Er hat schöne Hände, dachte Daisy. Breite Handflächen, lange Finger und saubere, kurz geschnittene Nägel.
An Egberts Händen ist auch nichts auszusetzen, fügte sie in Gedanken schnell hinzu. Sie waren genau so, wie man sie bei jemandem erwartete, der den ganzen Tag am Schreibtisch saß. Blass und weich – weicher als Daisys – und sorgfältig manikürt.
Prüfend sah Daisy ihm ins Gesicht. „Wie oft haben Sie denn bisher Geschirr gespült?“
„Wieso? Hat meine Technik Sie denn nicht beeindruckt?“ Charmant lächelte er sie an, und Daisy blickte wie gebannt auf seine Lippen.
„Das nennen Sie Technik? Spülmittel auf jedes einzelne Stück spritzen und es dann so lange unter den Wasserstrahl halten, bis es sauber ist?“
„Wenn daran etwas falsch war, hätten Sie es mir sagen sollen.“
„Ich sage ja nicht, dass daran etwas falsch war. Es ist nur ungewöhnlich.“
„Ihnen gefällt meine Art, Geschirr zu spülen, nicht. Oh, das tut weh.“
„Armer Kerl.“ Im Grunde gefiel Daisy alles an Kell nur viel zu gut. Dabei kannte sie ihn doch erst ein paar Stunden. Es war ein großer Fehler gewesen, ihn zum Übernachten einzuladen. Anscheinend war Daisy körperlich und seelisch zu erschöpft, um noch klar urteilen zu können. Eine Nacht darf er bleiben, länger nicht, sagte sie sich. Morgen finde ich irgendeinen Weg, um ihn loszuwerden.
Fast gleichzeitig streckten sie die Hände nach dem Lichtschalter aus. Ihre Finger berührten sich, und Daisy zuckte zurück. Verdammt!
Sanft legte Kell ihr eine Hand auf den Rücken und führte sie aus der altmodischen Küche. „Hat mein Onkel Harvey denn jemals übers Angeln gesprochen? Dabei muss man doch nur auf einer Bank sitzen, und davon gibt’s hier jede Menge.“
Daisy trat einen Schritt zur Seite, um Kells warmer Berührung auszuweichen. „Ich kann mich nicht erinnern. Meistens hat er über Schiffswracks gesprochen. Er wäre liebend gern Taucher gewesen, der alte Wracks auf dem Meeresboden untersucht. Darüber hat er auch eine ganze Reihe Bücher. Eigentlich hat er über alles Bücher, und die muss ich noch abstauben.“ Sie redete nur, um die Stimmung zu durchbrechen . Zu ihrem eigenen Wohl müsste sie diesen Mann eigentlich zur Tür hinausschieben, auch wenn das unhöflich war.
„Sie wollen jedes einzelne Buch abstauben?“
Ja, das werde ich, dachte sie. Ich will das Kapitel Harvey Snow abschließen. Vorher kann ich keinen neuen Patienten annehmen. „Mr. Snow hätte es sicher nicht gemocht, wenn irgendein Fremder seine Sachen durchwühlt.“
„Sie sagten, die meisten Zimmer seien seit Jahren nicht mehr betreten worden. Wieso ist er denn nicht einfach in ein kleineres Haus gezogen?“ Kell blickte zu den Lüftungsschlitzen über den Türen, durch die warme Luft ins Haus strömen konnte. „Bei diesen hohen Decken ist das Haus doch sicher schwer zu heizen, ganz zu schweigen von ständigen Reparaturen und Wartungsarbeiten.“
„Mr. Snow fühlte sich seiner Familie verpflichtet. Dieses Haus hat sein Großvater gebaut.“
„Seltsam, dass er dann niemals versucht hat, seinen Bruder ausfindig zu machen.“
„Vorausgesetzt, er hatte überhaupt einen Bruder.“ Daisy wollte nichts von seiner Familie hören. Dieser Mann lenkte sie auch so schon genug ab, da brauchte sie nicht noch mehr aus seinem Privatleben zu erfahren. Als Krankenschwester fiel es ihr meistens leicht, nüchtern und sachlich zu bleiben, aber als Frau gelang ihr das
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