JULIA COLLECTION Band 20
sich an den Kühlschrank. Offenbar hatte Daisy sich die Zeit genommen, ihr Haar zu einem Zopf zu flechten. Doch die ersten Strähnen lösten sich bereits wieder. Störrisches Haar, dachte er. Vielleicht gibt es noch anderes an ihr, was sich weigert, Regeln zu gehorchen.
Ihr Gesicht glänzte feucht. Offenbar hatte sie sich Wasser ins Gesicht gespritzt, doch geschminkt hatte sie sich nicht. Das hat sie auch gar nicht nötig, überlegte Kell. Sie ist vielleicht nicht die schönste Frau der Welt, aber sie hat etwas an sich, was sehr beeindruckend ist.
Das war eigentlich noch untertrieben. Daisy wirkte auf ihn wie ein helles Licht am Ende eines dunklen Tunnels. Ein kluger Mann würde an seiner Stelle das Weite suchen oder sich auf die Folgen gefasst machen.
Sie aßen in der Küche.
„Müssen Sie nicht in dem Motel, in dem Sie gestern übernachtet haben, noch auschecken?“
Kell kaute auf einem Stück Fleisch. Hm, diese Frau wusste aber, wie man Hühnchen zubereitete. „Ehrlich gesagt habe ich das schon getan. Ich wollte mir ein Motel mit einem größeren Bett und weicheren Kopfkissen suchen.“ Und vielleicht mit einer Blondine mit grauen Augen und störrischem Haar, die dieses Bett mit mir teilt.
Daisy schaute ihn an, als wisse sie genau, was ihm durch den Kopf ging, und Kell wurde rot. „Wie viele Zimmer, sagten Sie, gibt es hier?“, fragte er hastig. „Wir haben unsere Tour ja gar nicht beendet.“ Bloß nicht mehr ans Bett und an Daisy denken!
„Die übliche Anzahl.“ Sie tröpfelte Balsamico über ihren Salat.
„Doch so viele?“ Diese Frau war ihm ein Rätsel. „Zählt eine Veranda denn auch als Zimmer?“
„Wenn Sie wollen. Also schön: Im Erdgeschoss gibt es fünf Zimmer, die Veranden nicht mitgezählt, dazu kommen noch die Küche und die Unterkunft für die Bedienstete.“ Daisy griff nach einer zweiten Keule, und Kell folgte ihrem Beispiel.
Ihm gefielen Frauen mit gesundem Appetit. War Daisy in anderer Hinsicht vielleicht genauso hungrig?
Sobald sie mit dem Essen fertig waren, stand Daisy auf und räumte das Geschirr zusammen. Kell nahm ihr die Teller aus den Händen. „Lassen Sie mich das machen.“ Ganz bewusst ließ er seine Stimme eine Oktave tiefer rutschen. „Wegen Ihres Arms sollten Sie heute lieber nicht mehr abwaschen.“ Spielend leicht fand er seinen Charme wieder, mit dem er die Frauen umgarnt hatte, bevor er berühmt geworden war. Als Profisportler waren ihm die Frauen ohnehin nachgelaufen. Seltsam, dachte er, diese Zeit kommt mir jetzt gar nicht mehr so wundervoll vor.
„Sie haben von einer Bärenjagd gesprochen.“ Daisy wischte den Tisch und die Anrichte ab und stellte die Gewürze wieder weg. „Ich glaube, in der Bibliothek hing bis vor ein paar Jahren tatsächlich ein ausgestopfter Bärenkopf.“ Sie bewegte sich zügig und sprach schnell, als wolle sie irgendetwas von sich abschütteln.
„Und was ist damit passiert?“ Kell ließ heißes Wasser einlaufen und gab etwas Spülmittel auf einen Teller, bevor er ihn mit einem Schwamm abrieb. Als er den Teller unter den Wasserstrahl hielt, spritzte ihm das Wasser vorn aufs Hemd.
Daisys Lippen zuckten verräterisch. „Mit dem Bärenkopf? Den habe ich, ehrlich gesagt, nie gesehen, aber auf der Tapete ist ein heller Fleck. Anscheinend hatte dort etwas Großes gehangen. Faylene hat hier schon seit Jahren gearbeitet, und ich meine, sie hat mal erwähnt, dass sie einen Bärenkopf weggeworfen habe, weil er verschimmelt war oder so. Vielleicht saßen auch Motten darin. Ich weiß nicht, was mit ausgestopften Tieren geschieht.“
„Wenn Onkel Harvey den Bären nicht geschossen hat, dann war es vielleicht mein Dad. Er war erst sechzehn, als er hier weggezogen ist, aber in dem Alter kann er schon gejagt haben.“ Kell trocknete die letzte Silbergabel ab. Auf dem Griff war ein S eingraviert. Nachdenklich hob er eine der verzierten Salatgabeln. „Ein M als Gravur hätte mir ja sehr gefallen, aber das wäre sicher zu viel des Guten.“
Daisy bekam fast Mitleid mit ihm. Wie konnte sie es Kell verwehren, dass er so sehnsüchtig nach einem Ort oder Menschen suchte, von denen er abstammte? Im Grunde war es klug, wenn man seine Wurzeln suchte. Allerdings war Daisy nicht sonderlich versessen darauf, die Frau kennenzulernen, die sie vor sechsunddreißig Jahren auf die Welt gebracht hatte. Die ersten drei Jahre war Daisy bei ihrer Mutter aufgewachsen, doch dann hatte die ihre Tochter auf der Damentoilette in einem Einkaufszentrum
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