Julia Exklusiv Band 238 (German Edition)
Ehemann Sie abholen kommt.“
Er griff nach einem Stuhl und nahm ihn mit ins Badezimmer, wo er ihn mit der Lehne an das Waschbecken stellte.
„Setzen Sie sich“, sagte er und griff nach dem Duschkopf.
Lucy blieb unschlüssig stehen. „Sie müssen das nicht tun. Ich schaffe das schon allein.“
Er schenkte ihrem Protest keinerlei Beachtung, sondern drehte das Wasser an und prüfte die Temperatur. Vielleicht wollte er aber auch nur testen, wie sehr sie ihm vertraute. Ob ihre Worte von zuvor wirklich ernst gemeint waren.
Sie setzte sich also hin und ließ zu, dass er ein Handtuch in ihren Nacken legte und ihre Haare mit warmem Wasser ausspülte. „Ist das nicht zu heiß?“, erkundigte er sich. Sie schüttelte den Kopf.
Die Routine, mit der er ihr Haar zuerst wusch, dann mit einer Spülung behandelte und anschließend trocknete, zeigte ihr, dass er das nicht zum ersten Mal tat. Vermutlich hatte er seiner Frau häufig die Haare gewaschen, nachdem diese zu schwach geworden war, um es selbst zu tun.
Dieser Mann war wirklich voller Widersprüche, aber was verstand sie schon von Männern? Es hatte der Moralpredigten ihrer Großmutter überhaupt nicht bedurft, um Lucy ihre Unschuld zu bewahren. Niemals hatte sich ein männliches Wesen für sie interessiert. Davon abgesehen hatte sie überhaupt keine Gelegenheit gehabt, Männer kennenzulernen. Das hatte sich erst geändert, als sie das Haus ihrer Großmutter geerbt hatte und Steve vor ihrer Haustür erschienen war.
Hanif war ihr so fremd, dass sie weder das Recht noch die Erfahrungen hatte, sich ein Urteil über ihn zu erlauben. Das Einzige, was sie bewerten konnte, war die Art und Weise, wie er sie behandelte.
„Früher habe ich das gehasst“, sagte sie, nachdem sie auf den Balkon zurückgekehrt waren, wo ihr Haar in der Sonne trocknen sollte.
„Was haben Sie gehasst? Sich die Haare waschen zu lassen?“
„Das Waschen war nicht so schlimm, aber als Kind hat meine Großmutter mir danach immer die Haare gekämmt, und sie war dabei nicht gerade zimperlich.“
„Keine Angst, ich werde Ihnen nicht wehtun“, versprach er und fuhr mit dem Kamm, den er mit auf den Balkon genommen hatte, vorsichtig durch ihr Haar. „Es ist ungewöhnlich für eine Europäerin, so lange Haare zu haben.“
„Meine Großmutter gehörte einer Sekte an, die es für eine Sünde hält, wenn Frauen ihre Haare schneiden. Als Kind musste ich immer Zöpfe tragen, die so fest geflochten waren, dass mir die Kopfhaut wehtat.“ Abwesend blickte sie in die Ferne. „Einmal habe ich sie mir mit einer Küchenschere abgeschnitten.“
„Und war Ihre Großmutter verärgert?“
„Sie war nicht gerade erfreut“, gab Lucy zu. Sie hatte niemandem von den Schlägen erzählt, die sie damals bekommen hatte. Ihr Haar hatte furchtbar ausgesehen, doch immerhin war ihr dadurch eine Zeit lang die Tortur des Zöpfeflechtens erspart geblieben. Und als die Haare wieder lang genug waren, um sie flechten zu können, war sie bereits alt genug gewesen, um sie selber zu einem großen Zopf zu binden. Dieser Zopf musste so bieder wie nötig aussehen, um ihre Großmutter zufriedenzustellen, und so erwachsen wie möglich, um sie nicht dem Gespött ihrer Mitschüler auszusetzen. „Ich war kein besonders artiges Kind.“
„Kinder sollen ja auch nicht artig sein, sie sollen Kinder sein. Warum sind Sie eigentlich bei Ihrer Großmutter aufgewachsen? Wo war Ihre Mutter?“
„Irgendwo.“ Die Wahrheit war ihr herausgeschlüpft, bevor sie es verhindern konnte. Normalerweise erzählte sie immer, wenn sie danach gefragt wurde, ihre Mutter sei gestorben. Das war so viel weniger schmerzhaft als die Wahrheit. Aber irgendwie hatte sie es nicht übers Herz gebracht, Hanif anzulügen, dessen Tochter ja tatsächlich keine Mutter mehr hatte.
„Ich habe schon irgendwo eine Mutter“, fuhr sie fort. „Sie hat mich bei meiner Großmutter abgegeben und ist davongelaufen.“ Letzteres nahm sie ihrer Mutter nicht übel. Nur dass sie sie zurückgelassen hatte. „Sie war erst sechzehn Jahre alt und unverheiratet.“
„Und Sie wissen nicht, wo Sie ist? Haben Sie jemals versucht, sie zu finden?“
„Warum sollte ich das tun?“
Er zuckte mit den Schultern.
„Wenn sie mich hätte sehen wollen, hätte sie das einfach tun können. Sie wusste schließlich, wo sie mich finden würde.“ Als Kind hatte Lucy davon geträumt, dass ihre Mutter eines Tages auftauchen und sie mit sich nehmen würde. Dass sie gemeinsam ein ganz normales
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