Julia Extra 0357
plötzlich keine Rolle mehr, und ihr Ärger verflog. Hatte sie Raja nicht ermutigt und den entscheidenden Schritt gemacht? Wie sie inzwischen wusste, war er ausgesprochen praktisch veranlagt und pflichtbewusst, seinem Land und seiner Familie gegenüber loyal, zuverlässig und bestrebt, allen Erwartungen gerecht zu werden. Von ihr hatte er lediglich die Bereitschaft verlangt, eine gute Ehe zu führen. Und jetzt hielt er das kleine Mädchen auf dem Arm, das ihr so ans Herz gewachsen war, und spielte ihr zuliebe mit dem Gedanken, es zu adoptieren. Kein Mann, dem sie bisher begegnet war, hatte sich auch nur annähernd derart bemüht, sie glücklich zu machen.
Bei der Ankunft in Najar war alles anders als bei der Landung in Ashur. Der Flughafen war groß und modern, und als sie mit einer Polizeieskorte durch die belebten Straßen fuhren, wurde Ruby bewusst, dass das Land offenbar nichts mit Ashur gemeinsam hatte. Bürohochhäuser, Apartmentkomplexe, exklusive Einkaufszentren und exotisch anmutende Moscheen bestimmten das Bild der Hauptstadt. Jetzt war ihr auch klar, warum Raja sie so ungläubig angesehen hatte, als sie ihm vorgeworfen hatte, dass er auch über Ashur regieren wolle, denn dies lag in der Entwicklung um Jahrzehnte zurück.
Der Königspalast befand sich jedoch in einer alten Zitadelle, die von einer hohen Mauer umgeben und durch einen weitläufigen öffentlichen Park vom Stadtzentrum getrennt war.
So alt er von außen anmutete, so modern war das Innere, wie Ruby verblüfft feststellte. Mit wachsender Anspannung strich sie sich über ihr schlichtes schwarzes Kleid von der Stange, als eine Tür geöffnet wurde und eine Gruppe von Frauen erschien. Sie wurde noch nervöser, als diese entzückte Schreie ausstießen und auf ihren hochhackigen Absätzen auf sie zueilten. Im nächsten Moment wurden Raja und sie stürmisch willkommen geheißen.
Schließlich zog Raja sie nach vorn. „Das ist Ruby“, stellte er sie vor.
Warum hatte er sie nicht gewarnt, dass die Frauen in seiner Familie selbst am Nachmittag Designerkleidung trugen? Sie fühlte sich wie das sprichwörtliche hässliche Entlein, denn alle waren perfekt zurechtgemacht und trugen kostbare Juwelen.
Unter lebhaftem Geplauder betraten sie zusammen den Raum, aus dem die Frauen gerade gekommen waren. Nun gesellten sich auch die Kinder zu ihnen. Es herrschte ein unglaublicher Lärmpegel. Die anwesenden Männer hielten sich noch im Hintergrund und taten so, als wären sie nicht so neugierig. Ein junger Mann hingegen kam strahlend lächelnd auf sie zu und schüttelte ihr die Hand. „Raja meinte, Sie würden noch besser aussehen als auf dem Foto, und ich muss ihm recht geben. Ich bin sein Bruder Haroun“, fügte er fröhlich hinzu.
Es tat ihr gut zu wissen, dass Raja anderen gegenüber so von ihr sprach, denn ihr hatte er noch nie Komplimente gemacht. Fürchtete er etwa, diese würden ihr zu Kopf steigen? Oder setzte er derartige Äußerungen mit Romantik gleich? Oder verdiente eine Frau in einer platonischen Beziehung seiner Meinung nach gar keine? Haroun wirkte wie eine jüngere, etwas kleinere Ausgabe seines großen Bruders und war viel unbeschwerter, denn er machte nun politische Witze. Während die Angestellten Getränke und Snacks zu servieren begannen, gesellten sich Rajas Schwestern Amineh und Hadeel zu ihnen.
„Sie sind sehr schön“, sagte Hadeel, eine große, schlanke Frau von etwa Mitte Zwanzig. „Und Sie passen viel besser zu unserem Bruder als unsere verstorbene Cousine.“
„Wirklich?“ Hoffnungsvoll betrachtete Ruby ihre Schwägerin. „Da ich ihr nie begegnet bin, weiß ich auch nichts über sie.“
„Bariah war siebenunddreißig und verwitwet“, eröffnete Amineh ihr trocken.
„Aber sie war ein wundervoller Mensch“, beeilte Hadeel sich hinzuzufügen, weil sie offenbar fürchtete, dass Ruby sich angegriffen fühlte.
Ruby hingegen freute sich insgeheim über die Offenheit der beiden, weil diese ein gutes Zeichen war und sie außerdem den typischen Frauenklatsch vermisste. Dass Bariah acht Jahre älter als Raja und außerdem schon einmal verheiratet gewesen war, hätte sie ohne Weiteres von Wajid erfahren können, doch sie war zu stolz gewesen, sich ihre Neugier anmerken zu lassen. Nachdem die beiden ihr ihre Ehemänner und ihre Kinder vorgestellt hatten, lernte sie auch die anderen Verwandten kennen. Da alle ausgesprochen herzlich zu ihr waren, war die Anspannung von ihr abgefallen, als Raja schließlich zu ihr kam. Er teilte
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