JULIA EXTRA BAND 0263
wusste, ob sie seinen Bruder wollte oder nicht. Auch wenn sie sich Dr. Madison nannte, dank einer Dissertation über europäische Landschaftsarchitektur im siebzehnten Jahrhundert.
Wo war Pia?
Sein Herz schlug plötzlich heftig, und voller Panik schaute er sich um. Er konnte sie nicht sehen. Er hätte ihr heute Morgen etwas Bunteres anziehen sollen. Doch davon gab es kaum etwas in ihrem Kleiderschrank. Wie Angele, so bevorzugte auch Miss Cassidy hervorragend gearbeitete französische Kinderkleidung in neutralen Farben – dunkelblau, grau und beige, genau das, was auch die meisten Erwachsenen im Flughafen trugen. Sie war so gut getarnt wie …
Ah. Da war sie. Sicher. Sie beobachtete eine Frau, die mit ihrem Rollkoffer kämpfte.
Und da kam auch Rowena Madison.
Sie hatte ihn noch nicht gesehen und suchte die Gesichter der Umstehenden ab. Ihre Zähne gruben sich in die Unterlippe, so als hätte sie Angst, er wäre nicht gekommen. Sie konnte natürlich nicht wissen, wie stolz er auf seine Zuverlässigkeit war.
Gino hob eine Hand, winkte, lächelte und rief ihren Namen. Als sie ihn entdeckte, nahm ihr Gesicht einen merkwürdigen Ausdruck an, so als ginge sie gerade ein Raster verschiedenerBilder oder Fotos durch.
Er hatte keine Ahnung, was Francesco in ihr sah, abgesehen natürlich davon, dass sie sehr hübsch war mit diesen tiefblauen Augen, der makellosen Haut und dem langen dunklen Haar, das sie lose zurückgebunden hatte. Auf Gino wirkte sie dennoch immer so geziert und spröde wie Pasta, die nicht al dente, sondern zu weich gekocht war – durchaus essbar, ja, aber nicht wirklich appetitanregend.
Sie schob sich durch die Menge zu ihm, ein wenig außer Atem wegen des großen Koffertrolleys, den sie hinter sich herzog. Sie trug einen braunen Hosenanzug mit einer weißen Seidenbluse darunter. Die Bluse saß nicht ganz so akkurat wie der Hosenanzug. Einer der mittleren Knöpfe hatte sich gelöst und zeigte die untere Hälfte eines weißen Spitzen-BHs und einen schmalen Streifen Haut zwischen ihren Rippen. „Francesco …?“ Es war nicht ganz eine Frage.
„… konnte nicht kommen“, antwortete Gino in seinem nahezu perfekten Englisch. Er entschuldigte sich nicht für seinen Bruder, denn es war nicht dessen Fehler.
Er hatte Francesco quasi befohlen, in Rom zu bleiben und seine erhitzten Sinne ein wenig abzukühlen, während er selbst mit Rowena am Garten arbeiten würde. Für ein paar Wochen konnte er die Firmengeschäfte durchaus vom Familiensitz in der Toskana aus leiten, und außerdem wollte er Pia unbedingt aus Rom wegbringen.
Um zu sehen, ob das etwas an ihren Wutanfällen änderte.
Um herauszufinden, ob sie sich anders benahm, wenn ihre englische Nanny nicht dabei war, die Angele immer über den grünen Klee gelobt hatte.
Um sein Kind endlich kennenzulernen.
„Francesco konnte nicht kommen“, wiederholte Rowena. Ihre Stimme klang ein wenig rauchig, tiefer und voller, als Gino sie in Erinnerung hatte. Vielleicht lag es an der trockenen Luft im Flugzeug. Oder sie war erkältet.
„Es tut mir leid“, sagte er in Bezug auf Francescos Abwesenheit.
Obwohl es ihm überhaupt nicht leidtat.
Wie das wohl bei Dr. Madison war? Sie wirkte ein wenig schockiert.
„Ich schätze, dann werde ich mich mit Ihnen zufriedengebenmüssen … ähm … Gino.“ Sie schenkte ihm ein strahlendes, jedoch panikartiges Lächeln.
Das Strahlen versetzte ihm einen plötzlichen Schauer, und die Panik machte ihn neugierig. Er hatte bereits erkannt, dass sie ein eher ängstlicher, nervöser Typ war, doch das hier wirkte irgendwie anders.
Aber wo war Pia?
Ein weiterer, andersartiger Schauer. Er hatte Pias Mutter verloren, erst durch die Scheidung, dann durch ihren frühzeitigen Tod. Er würde nicht auch noch sein einziges Kind verlieren.
Dieses Mal konnte er sie wirklich nicht sehen und verfluchte ihr taubengraues Kleid. Warum nicht Pink oder Lila oder Rot mit Blumen? Was für eine Farbe war Grau für ein kleines Mädchen?
„Stimmt etwas nicht?“, fragte Roxanna Francescos älteren Bruder.
Puh, da hatte sie gerade noch mal Glück gehabt!
Da sie beiden Männern noch nie begegnet war, hatte sie ihn Francesco genannt. Gott sei Dank glaubte er, dass sie über Francesco redete, und so war ihr Lapsus nicht aufgefallen. Doch dann brauchte sie drei Sekunden, um sich an Ginos Namen zu erinnern. Genau das war das Problem, wenn man am Abend vorher erst für eine Prüfung lernte. Die wichtigsten Fakten entfielen einem im
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