JULIA EXTRA BAND 0263
er ihr nachgehen und sie noch einmal zur Rede stellen? Sie hatte vorhin sehr offen geklungen, voll rechtschaffener Empörung, und doch sagte ihm sein Instinkt, dass sie nicht die ganze Wahrheit erzählt hatte.
Seine Prüfung ihrer Loyalität gegenüber Francesco hatte ungeahnte und drastische Konsequenzen.
Aber warum fühlte er so?
Hatte er nicht genau das bekommen, was er wollte?
In zweifacher Hinsicht sogar.
Zum einen hatte sie seinen sorgfältig geplanten Kuss mit viel mehr Enthusiasmus erwidert, als er erwartet hatte. Dieses Gefühl von Lebendigkeit, Leidenschaft und sexueller Großzügigkeit in der Amerikanerin hatte all seine Sinne erfasst und ließ ihn auch jetzt noch nicht los. Mein Gott, wann war er jemals mit solch ungezügelter Hingabe geküsst worden? Sein Blut kochte noch immer, und seine Lenden fühlten sich schwer vor Verlangen an.
Zum anderen hatte sie offenbart, dass sie keinerlei Gefühle für Francesco hegte und an einer Affäre mit ihm nicht das geringste Interesse bestand. Offensichtlich hatte Dr. Madison sogar den Hörer aufgeknallt, um ihren Standpunkt zu unterstreichen. Das war zwar eine weniger großzügige Tat als ihr Kuss, aber mit Sicherheit genauso leidenschaftlich.
Das Telefon.
Also gut, das sollte sein nächster Schritt sein. Francesco anrufenund ihre Geschichte überprüfen.
Um ungestört zu sein, zog sich Gino in sein Büro zurück. Er erreichte seinen Bruder sofort, der Dr. Madisons Version bestätigte – allerdings klang sie bei ihm ganz anders.
„Sie hat zwei vollkommen unterschiedliche Gesichter, Gino. Wir sollten sie sofort feuern. Da lässt sie mich mit ihrer angeblichen Zurückhaltung und Tugendhaftigkeit Ewigkeiten an der langen Leine zappeln. Sie hätte mich beinahe zum Narren gehalten!“
„Zum Narren?“ Das Wort löste in Gino ein ungutes Gefühl aus.
„Ich verhalte mich so vorsichtig, will sie nicht verschrecken, und dann putzt sie mich heute wie ein ordinäres Fischweib herunter. Alles zuvor muss pure Schauspielerei gewesen sein. Ich sage dir, feuere sie! Sie kann mich nicht derart behandeln und damit davonkommen.“
„Aber du kannst sie auf diese Weise behandeln und damit davonkommen, Francesco?“, fragte Gino mild.
„Was in aller Welt meinst du?“
„Hast du sie gebeten, deine Geliebte zu werden? Oder hast du ihr versprochen, die Verlobung zu lösen?“
„Nun ja … beides. Ich habe beides versucht.“
„Aber du hast es nicht ernst gemeint.“
„Das wusste sie. Eine Frau erwartet nun mal, solche Dinge zu hören, aber sie glaubt sie nicht, Gino. Andernfalls ist sie eine komplette Närrin. Rowena konnte die Lektion gut gebrauchen. Ich habe ihr einen Gefallen getan. Für eine Frau ihres Alters war sie hoffnungslos naiv.“ Er hielt einen Moment inne. „Zumindest hat sie mich das glauben lassen. Aber nein, es war alles nur Schauspielerei.“
War es das? Sein Instinkt sagte Gino, dass es nicht ganz so einfach war, denn er konnte beim besten Willen keine offensichtliche Täuschung erkennen. Der ängstliche Bücherwurm, dem er in den vorigen Treffen begegnet war, und die offene, lebendige junge Frau, die er in den vergangenen vierundzwanzig Stunden gesehen hatte – gesehen, gesprochen und geküsst –, schienen beide absolut authentisch.
Irgendetwas stimmte hier wirklich nicht.
„Ich bin froh, dass ich mit dir gesprochen habe, Francesco“, sagte er.
„Also wirst du dich um sie kümmern?“
„Ja, ich denke, es gibt in der Tat ein paar Dinge, um die ich mich kümmern muss“, erwiderte Gino.
„Gut, ich freue mich schon auf deinen Bericht.“
„Du bekommst einen, wenn es etwas zu berichten gibt. Bitte grüße Marcellina von mir. Sie verdient etwas Besseres.“
„Ach ja?“ Francesco lachte, vollkommen ungerührt von der Kritik. „Tu mir einen Gefallen, großer Bruder. Behalt deine Meinung für dich.“
Siebzehn Minuten und zwanzig Sekunden.
So lange musste Roxanna warten, ehe es an ihre Tür klopfte. Maria mit dem Dinner auf dem Tablett?
Langsam öffnete sie die schwere Holztür. Das plötzliche Gefühl körperlicher Schwäche, das sie erfasste, machte sie wütend.
„Ja, Gino?“
Na also. Höflich und kühl. Sie klang so, als hätte sich ihr Kuss in einem anderen Leben ereignet.
„Wollen Sie mich nicht hereinlassen?“
„Doch, falls Sie gekommen sind, um sich zu entschuldigen.“
„Deshalb bin ich gekommen, und um ein paar Informationen zu erhalten.“
Das mit der Entschuldigung klang weitaus sicherer. Mit souveräner,
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