JULIA EXTRA BAND 0273
Daniel irgendwo in Anzug und Krawatte erschienen war. Dieser Aufzug gefiel ihm nicht, aber der neue Haarschnitt hatte zwangsläufig eine insgesamt etwas konservativere Aufmachung nach sich gezogen.
In Gedanken kehrte er zu dem Tag zurück, an dem Stephanie sein Haar geschnitten hatte. Spontan fuhr er sich über den Kopf und musste grinsen. Wie nicht anders zu erwarten, hatte sie gute Arbeit geleistet.
Ihr erster Kuss war ihm für immer ins Gedächtnis eingebrannt. Damals war er noch überzeugt gewesen, das es ihr erster und letzter Kuss wäre. Doch am nächsten Tag überraschte sie ihn, indem sie ihn erneut küsste. Nicht auf die Wange, sondern auf die Lippen. Also hatte sie ihm verziehen, was auch immer er verbrochen haben mochte.
Warum ihn das so freute, wusste Daniel nicht.
Nun, da sie nicht mehr zusammenschrak, sobald er sich ihr näherte, war es wunderbar, mit Stephanie zusammen zu sein. Sie war gebildet, klug und herzensgut. Er wusste, dass sie ihren Mitarbeitern gegenüber sehr großzügig war, ihnen Geld lieh, sich ihre Sorgen anhörte und sogar für sie einsprang, wenn sie sich kurzfristig freinehmen wollten. Doch auch ihm gegenüber verhielt sie sich großzügig. Ohne sein Wissen hatte sie Stunden damit zugebracht, aus seinen Bildern und Daten eine Power-Point-Präsentation zusammenzustellen, mit der er beim heutigen Treffen geglänzt hatte.
Und als wäre das nicht schon genug, um in Gedanken ständig bei ihr zu sein, war sie auch noch atemberaubend schön. Unter demselben Dach zu leben wie eine Frau, die sich auf nichts außer Küssen einließ, brachte ihn um den Verstand. Aber sie würde der einzigen Art von Beziehung, die er zu geben hatte, niemals zustimmen. Daniel wünschte, er könnte ihr mehr bieten.
Andererseits waren Küsse besser als nichts.
Vielleicht sollte er sie einladen, um seinen heutigen Erfolg mit ihm zu feiern. Sie könnten zu einem Fußballspiel fahren und anschließend Essen gehen. Irgendwie hatte er im Gefühl, dass Stephanie so etwas Spaß machte.
Übermütig nahm er immer zwei Stufen auf einmal zur Wohnung hinauf.
Durch die gläserne Balkontür dröhnte Musik. Klassischer Hardrock. Daniel lachte, als er ins Wohnzimmer trat. Der harte Klang hörte sich so ganz anders an als die sanften Jazzklänge, die Stephanie im Restaurant bevorzugte.
Glücklich sog er Stephanies Parfüm ein, das zart in der Luft lag.
„Stephanie“, rief er, doch sie antwortete nicht. Kein Wunder, bei diesem Lärm. Also ging er den Flur hinunter und sah, dass ihre Türe offenstand. Daniel verlangsamte seinen Schritt.
Und erstarrte.
Mit dem Rücken zu ihm suchte sie etwas im Kleiderschrank. Wie gewöhnlich hatte sie ihr langes Haar hochgesteckt. Nur ein paar Locken kräuselten sich widerspenstig in ihrem Nacken. Der schlanke wunderschöne Rotschopf war splitterfasernackt.
Doch es war nicht die Nacktheit, die Daniels Herz wie wild an seine Rippen pochen ließ.
Es waren die Narben.
Von den Schulterblättern bis zu den Oberschenkeln zogen sich lange weiße Narben über den sonst makellosen Körper.
Daniel wich zurück. Wer zum Teufel …
Einen Augenblick blieb er wie angewurzelt im dämmrigen Flur stehen. Sie durfte ihn nicht sehen, durfte nicht wissen, dass er sie gesehen hatte. Und er brauchte Zeit, um mit dem fertig zu werden, was er gerade entdeckt hatte.
Der Hof hinter dem Restaurant war menschenleer. Nur die Mülleimer und das Kätzchen leisteten ihm Gesellschaft. Mit zittrigen Knien lehnte Daniel sich an die Häuserwand und schloss die Augen. Sofort erschien der Anblick von Stephanies geschundenem Rücken wieder vor seinem inneren Auge.
Was war passiert? Ein Autounfall? Ein Brand?
Wieder sah er die Narben vor sich. Lange Narben. Wie von einem Gürtel oder einer Peitsche. Ein unkontrolliertes Zittern überfiel seinen Körper. Mitleid. Das musste Mitleid sein – und Zorn. Noch nie zuvor war er so wütend gewesen. Nicht auf seine Mutter, und nicht einmal auf John.
Irgendein Verrückter hatte Stephanie geschlagen und sie so zugerichtet. Nicht einmal, nicht zweimal, sondern regelmäßig. Er erinnerte sich an ihre Unterhaltung im Restaurant, und nun ergab sie einen Sinn. Sie hatte gesagt, ihr Freund hätte sie verletzt, und Daniel hatte vermutet, dass er körperliche Gewalt angewendet hatte. Doch so etwas hatte er nicht erwartet.
War sie deshalb nach England gekommen? Um einem Verrückten zu entkommen?
Unzählige Fragen stürmten auf ihn ein, auf die er keine Antworten wusste. Stephanie
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