JULIA EXTRA BAND 0274
nur aus vorhersagbarer Plackerei bestehen, man braucht auch etwas Abenteuer, findest du nicht?“ Nach diesem Gefühlsausbruch schaute sie aus dem Fenster, um ihre Fassung wiederzugewinnen. „Jedenfalls war ich mir nicht ganz sicher, was ich tun wollte, um mich besser zu fühlen, aber eins wusste ich genau: Ich wollte dieses Buch schreiben. Die Idee dafür hatte ich schon seit Langem, habe aber immer wieder Ausreden gefunden, um es nicht zu tun. Ich befürchtete, dass die Leute denken würden, dass ich mich damit übernehme, weißt du? Dass ich etwas versuche, das eine Nummer zu groß für mich ist.“ Die besagten „Leute“ waren ihre Familie und Patrick. „Ich musste einige schwierige Entscheidungen treffen. Ich habe mich von meinem Verlobten getrennt und unsere Hochzeit abgeblasen. Und das nicht, weil ich gefühllos bin, sondern weil es sowieso nicht funktioniert hätte. Und dann dachte ich mir, wenn ich es jetzt nicht tue – die Wanderung über den Jakobsweg und das Buch – , dann habe ich möglicherweise nie wieder die Gelegenheit und den Mut dazu. Deshalb bin ich jetzt hier. Ich glaube, dass ich die Wanderung mache, weil ich neue Ideen und neuen Mut finden will für ein anderes Leben als bisher … weil ich entdecken möchte, wer ich wirklich bin und was ich leisten kann … Verstehst du, was ich meine?“
Leandro bemerkte ihren verlegenen Unterton und zog innerlich den Hut vor so viel Ehrlichkeit. Eine so aufrichtige Antwort auf seine Frage wirkte sehr erfrischend, vor allem wenn er an die Falschheit mancher der Frauen dachte, mit denen er zusammen gewesen war. Isabella Deluce war wirklicheine faszinierende, unbestreitbar aufreizende Person, von der kein Mann unbeeindruckt bleiben würde. Er stand auf und schlenderte zu ihr hinüber.
„Isabella …“
Genüsslich betrachtete er ihre dunkle Haarpracht, dann teilte er ein paar der seidigen Strähnen mit seinen Fingern und blies sanft seinen warmen Atem in ihren Nacken. Er sah, wie sie erschauerte, und war heilfroh, dass er sie in Benitos Luxusherberge gebracht hatte, denn die Wahrscheinlichkeit, dass irgendwelche Paparazzi ihm hierher gefolgt waren, war relativ gering. Leandro wollte sich von jetzt an für den Rest der Nacht ganz und gar Isabella widmen. „Jeder Schritt auf dem Jakobsweg bringt dich deinem wahren Selbst näher“, versicherte er ihr. „Das verspreche ich dir. Wenn du am Ende des Weges die Kathedrale in Santiago erreichst und durch den berühmten Pórtico de la Gloria trittst, wie es schon Millionen Pilger vor dir getan haben, dann wirst du eine größere Klarheit in Geist und Seele besitzen.“
Instinktiv wusste Isabella, dass Leandro recht hatte, und seine Worte machten ihr Mut. Schon jetzt, nachdem sie so viele Tage und Kilometer gewandert war, manchmal schweigend, manchmal in Gesellschaft anderer Wanderer, oder an den Abenden, wenn Gruppen von Pilgern sich in den vielen Dörfern in Nordspanien zusammenfanden zur allabendlichen Pilgermesse, merkte sie, dass ein tiefgreifender Wandel in ihr vorging. Wie Leandro gesagt hatte, unternahmen die meisten Wanderer die Reise nicht aus religiösen Gründen. Aber diese anstrengende Reise über 800 Kilometer zu Fuß in der heißen nordspanischen Sonne, in Wind und Regen gab jedem reichlich Gelegenheit zum Nachdenken.
Diese Wanderung würde ihr Leben für immer beeinflussen. Sie war noch nicht abgeschlossen, doch Isabella hatte unterwegs schon herausgefunden, dass viel mehr in ihr steckte als eine pflichtbewusste Tochter und eine gute Bibliothekarin. Sie hatte sich von einem Verlobten gelöst, der heimlich die wahre Bedeutung der Liebe verspottet und seiner Verlobten nicht eine Spur von Loyalität entgegengebracht hatte. Und sie hatte sich über die Ratschläge ihrer Familie hinweggesetzt, die ihre Entscheidungen nicht billigten und überall Fallstricke witterten. All das war von ihr aufgegebenworden, um sich in einem Teil von Spanien wiederzufinden, der so weit von den touristischen Küsten entfernt war, dass er in einem anderen Land hätte liegen können. Dieser Teil des Landes hatte extreme Wetterverhältnisse zu erdulden – erst prasselte der Regen auf den roten Lehm in den Ebenen nieder, und schon im nächsten Moment verwandelte die glühende Sonne die Erde in einen Backofen. Und in der Seele eines jeden, der sich dem Zauber dieser Landschaft hingab, regte sich das Gefühl, einem Mysterium beizuwohnen.
Als ob das noch nicht genug wäre, fühlte sie sich nun durch Leandro dazu bewogen,
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