JULIA EXTRA Band 0281
weil sie dieses Geschäft noch nicht mit ihrem Besuch beehrt hatte.
Zuerst hatte Tom überlegt, den Auftrag der Lady höflich abzulehnen und stattdessen lieber mehr Zeit fürs Angeln zu haben. Dann hatte er es jedoch wie üblich nicht geschafft, Nein zu sagen, wenn eine Frau ihn um Hilfe bat.
Sein Cousin Alex unterstellte ihm, stets wie ein Ritter in schimmernder Rüstung Frauen zu Hilfe eilen zu wollen, aber was wusste Alex denn? Der sollte sich lieber um seine eigenen Angelegenheiten kümmern!
Tom duckte sich unter einer niedrig hängenden Weinranke, ging vorsichtig weiter, um sich nicht den Knöchel zu verstauchen, und stand schließlich vor einer eindrucksvollen, drei Meter hohen, geschnitzten Haustür. Der rechte Türflügel war nur angelehnt, davor lag ein großer rotbrauner Setter, an dessen Halsband eine Plakette mit dem Namen Smiley baumelte.
„Du bist also Smiley, stimmt’s?“, meinte Tom.
Der Hund hob müde den Kopf und sah tieftraurig drein. Anscheinend freute er sich nicht über den unerwarteten Besucher.
„Ist die Dame des Hauses denn auch da?“, fragte Tom und streichelte dem Tier sanft den Kopf.
In dem Moment erklang von drinnen ein Krachen, gefolgt von einem Schwall höchst undamenhafter Flüche. Ja, die Besitzerin war unüberhörbar zu Hause.
„Hallo!“, rief er, aber drinnen blieb es nun still.
Da keine Klingel zu sehen war, stieg er schließlich über den melancholischen Hund hinweg und ging in die große Eingangshalle. Drinnen stand eine alte Gartenbank, auf der sich ungeöffnete Post stapelte, daneben fristete ein Farn in einem bunten Keramiktopf ein trauriges Dasein.
Wieder ertönte ein Fluch, diesmal etwas leiser, und Tom ließ sich davon zu einem Raum leiten, der offensichtlich einmal das Wohnzimmer gewesen war. Der Holzfußboden hätte eine Behandlung mit Bohnerwachs durchaus vertragen. Große Fenster, die vom Boden bis fast zur Decke reichten und an denen keine Gardinen hingen, boten einen durch Büsche teilweise verdeckten Blick auf die in der Sonne glitzernde, spektakuläre Bucht von Port Philip.
Unwillkürlich stellte er sich vor, was er aus diesem Besitz machen könnte, wenn er den ganzen Sommer Zeit hätte, dazu genug Geld und sein altes Team an der Seite. Dann schüttelte er den Kopf, wie um die dummen Gedanken zu vertreiben.
Der Raum war leer, es gab keine Möbel, keine Bilder, nichts. Nun ja, nicht absolut nichts: Eine Telefonschur schlängelte sich zur gegenüberliegenden Wand, wo auf dem Boden ein großes Laken ausgebreitet war, auf dem Behälter mit verschiedenen Farben standen, außerdem ein wackeliger Tisch mit Bechern voll Pinselreiniger und Pinseln in allen möglichen Größen. Verhüllte flache Gegenstände lehnten an der Wand, auf einer Staffelei stand eine große Leinwand, bedeckt mit kräftigen Pinselstrichen in verschiedensten Schattierungen von Blau.
Und vor der Staffelei stand die Dame des Hauses. Ein dunkelblaues Tuch hielt ihr das blonde Haar aus dem Gesicht, sie trug eine mit Farbe bespritze Jeans, ein ehemals weißes T-Shirt … und keine Schuhe.
Tom räusperte sich. „Miss Bryce?“, rief er dann.
Sie drehte sich so rasch um, dass Farbe vom Pinsel auf die Leinwand spritzte. Rote Farbe.
„Heiliger Bimbam“, schimpfte die Malerin, schon viel gemäßigter als vorhin. Ihre Stimme war tief und ein bisschen rau, leichtes Rot lag auf den hohen Wangenknochen, und die grauen Augen funkelten.
Heute ist ein Glückstag, dachte Tom. „Lady“ Bryce war umwerfend attraktiv! Schade, dass Alex nicht hier war. Dem hätte er jetzt liebend gern erklärt, dass er wegen solcher angenehmen Überraschungen niemals Nein sagte, wenn eine Dame in Nöten an seine Hilfsbereitschaft appellierte.
„Wer, zum Teufel, sind Sie?“, fragte die Lady. Sie war wohl von ihm weniger beeindruckt als umgekehrt. „Was machen Sie in meinem Haus?“
Er fand, dass sie sich das denken konnte, da er seinen Werkzeuggurt umgeschnallt hatte, antwortete aber trotzdem höflich: „Ich bin Tom Campbell, der freundliche Mann für alles hier in der Gegend.“ Er lächelte herzlich, was ihm schon öfter Schwierigkeiten erspart hatte, und breitete die leeren Hände aus, um zu zeigen, wie harmlos er war. „Sie haben mich vor einigen Tagen angerufen und für heute hierhergebeten, damit ich irgendetwas richte.“
Sie blinzelte mehrmals, was seine Aufmerksamkeit auf ihre langen, dichten Wimpern lenkte. Flirten wollte sie jedoch nicht. Im Gegenteil: Sie wirkte äußerst abweisend und
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