JULIA EXTRA Band 0281
gemacht, als er versprach, die Haushälterin würde ihr das castillo zeigen. Mit dem Grundriss vertraut zu sein, könnte ihr helfen, ihren Fluchtplan möglicherweise noch in dieser Nacht umzusetzen.
Tatsächlich war der Rundgang durchs castillo so unerwartet interessant, dass Tamsin darüber fast ihren Plan vergaß. Schon vor dem Studium hatte sie sich für mittelalterliche Architektur interessiert, und während sie mit einem Ohr Nelida lauschte, die den unübersichtlichen Bau wie ihre Westentasche kannte, stellte sie fest, dass der ursprüngliche, typisch maurische Grundriss über die Jahrhunderte mehrfach verändert und mit den jeweiligen Mitteln seiner Zeit erweitert und modernisiert worden war.
In Marcos’ Fall beschränkten sich die Veränderungen offenbar hauptsächlich auf elektronische Finessen und Wachleute, die an jeder möglichen und unmöglichen Ecke postiert waren. Sogar die Außentüren und Telefone waren nur mit einem geheimen Code zu benutzen, und Tamsin wusste jetzt den Grund für seine scheinbare Großzügigkeit.
Marcos Ramirez wollte seiner Gefangenen nur eindrucksvoll demonstrieren, dass sie keine Chance hatte, ihm zu entkommen.
Doch anstatt sich entmutigt zu fühlen, war Tamsin jetzt erst recht zur Flucht entschlossen. „Ein fantastisches altes Gemäuer!“, rief sie in gespieltem Enthusiasmus aus. „Und so wildromantisch! Gibt es hier vielleicht auch Geister, Folterkammern oder Geheimgänge?“, fragte sie die Haushälterin im harmlosen Ton einer begeisterten Touristin.
„Es gibt tatsächlich eine Art Tunnel, der aus dem castillo nach draußen führt“, erklärte Nelida stolz. „Aber den kann ich Ihnen leider nicht zeigen.“
„Warum? Weil da die Geister wohnen?“, wollte Tamsin mit einem gespielten Schaudern wissen.
„Nein, aber er geht von Mr. Ramirez’ Privatzimmer im Erdgeschoss aus. Es ist mir nicht erlaubt, es Ihnen zu zeigen, aber wahrscheinlich werden Sie es früh genug selbst …“ Sie verstummte und warf Tamsin einen vielsagenden Blick zu. „Hier geht es zu Ihrem Zimmer, Señorita“, informierte die Haushälterin sie schon wesentlich kühler. Plötzlich schien sie keine Zeit mehr für sie zu haben.
„Klingeln Sie, wenn Sie etwas brauchen“, wies sie Tamsin, die sich neugierig im Gästezimmer umschaute, in ihrem akzentuierten Englisch an. „Ich wünsche Ihnen eine gute Nacht.“
Ihr neues Domizil glich eher einem Luxuszimmer im Fünfsternehotel als der erwarteten Gefängniszelle, mit der sie gerechnet hatte. In der Mitte thronte ein antikes Himmelbett mit luftigen weißen Vorhängen, und über dem Sims des offenen Kamins, in dem ein anheimelndes Feuer brannte, hing ein großer Flachbildschirm.
Die Wände waren gesäumt mit Bücherregalen und bestückt mit abwechslungsreicher Literatur in verschiedenen Sprachen, wie Tamsin feststellen konnte. Neugierig öffnete sie auch den riesigen Schrank und war mehr als beeindruckt, als sie die große Auswahl an Kleidung sah. Und alles in ihrer Größe! Selbst in Stil und Farben glichen sie ihrer eigenen Garderobe fast eins zu eins.
Es war regelrecht beängstigend. Wie lange mochte sich Marcos wohl auf ihre Entführung vorbereitet haben?
Als sie Regentropfen gegen die Scheiben klopfen hörte, schloss sie den Schrank wieder, ging zum Fenster hinüber und öffnete es. Ganz tief sog Tamsin die würzige frische Nachtluft ein. In der Ferne glaubte sie das Meer rauschen zu hören, aber vielleicht war es auch nur Einbildung.
In welchem Stock mochte ihr Zimmer liegen? Auf jeden Fall war sie in Augenhöhe mit den Palmwedeln. Nur schade, dass die Bäume mindestens fünf Meter vom Haus entfernt standen. Marcos Ramirez schien wirklich an alles gedacht zu haben. Selbst wenn es ihr gelingen sollte, aus dem castillo zu fliehen … wie sollte sie ohne Handy, Geld oder ihren Pass Aziz von ihrer misslichen Lage unterrichten können?
Tausend Fragen schossen ihr unerwartet durch den Kopf. Wie es wohl Nicole gehen mochte? War ihre kleine Schwester noch bei Camilla in Tarfaya? Und wenn ja, dann wo? In Aziz’ Kasbah in den Bergen? Oder vielleicht schon in London? Wusste Nicole überhaupt, dass Tamsin entführt worden war? Hatte die Kleine Angst?
Verzweifelt schaute Tamsin auf ihre zitternden Hände. Die Innenflächen waren immer noch mit den Brautmotiven aus Henna verziert. Tamsin wollte die Erinnerung an ihre geplatzte Hochzeit auslöschen und streckte ihre Hände aus dem Fenster, hielt sie in den Regen und wischte sie dann an ihrem teuren
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