JULIA EXTRA Band 0287
hatten weggeben müssen.“ Rhia zuckte mit den Schultern. „Egal, sie und Dad adoptierten mich, und die Behörden hatten nichts dagegen, weil sie angesehene Gemeindemitglieder waren.“
„Aber du hattest nicht das Gefühl, dass sie dich wirklich wollten?“
Sie zuckte zusammen. „Das habe ich nie gesagt!“
„Das brauchtest du auch nicht“, sagte er sanft.
Gedankenverloren blickte sie aufs Meer hinaus, die im Sonnenlicht gleißenden Wellen. „Sie waren schon Ende vierzig, als sie mich zu sich nahmen. Mum hatte keine Kinder bekommen können.“
„Umso mehr ein Grund, überglücklich zu sein, wenn sie dadurch die Chance bekamen, doch noch Eltern zu werden.“
„Ich vermute, sie hatten sich mit ihrem Leben zu sehr eingerichtet. Ein lebhaftes Kleinkind kann eine Last sein.“
„Und so hast du dich gefühlt?“
„Gesagt haben sie es nie, aber es war … da.“ Sie erinnerte sich an ihre missbilligenden Blicke und das Gefühl, sie müsse möglichst unsichtbar sein, dann würden sie sie lieben.
Das war Unsinn, heute wusste sie das. Aber nicht mit sechs, mit zwölf oder selbst dann noch nicht, als sie zweiundzwanzig war.
„Einmal, zum Beispiel …“ Die Erinnerung tat immer noch weh. „Ich hatte Hunger, weil ich in der Schule das Essen verpasst hatte, ich weiß nicht mehr, warum. Mum hatte mir streng verboten, zwischen den Mahlzeiten zu essen, doch sie war in der Kirche, um mit anderen Frauen frische Blumen zu arrangieren. Also machte ich mir ein Sandwich und räumte hinterher sauber auf, damit sie nichts merkte. Leider habe ich einen Tropfen Ketchup übersehen, und sie wurde … entsetzlich wütend.“ Sie brachte ein schiefes Lächeln zustande. „Zur Strafe musste ich ohne Abendessen ins Bett.“
Lukas legte ihr die Hand auf die Schulter, berührte ihre Wange. „Das tut mir leid.“
„Muss es nicht.“ Ohne nachzudenken, schmiegte sie sich an seine Finger. Seine Wärme, seine Kraft zu spüren tat gut. „Es ist lange her.“
„Aber die Narben sind geblieben.“
„Ja, ich denke schon.“ Das schmerzverzerrte Gesicht ihrer Mutter tauchte vor ihrem inneren Auge auf. Rhia hatte sie Tag für Tag aufopfernd gepflegt, doch nie etwas anderes gesehen als die harte Miene, die kalten Augen.
Kurz vor ihrem Tod hatte sie es gewagt, sie zu fragen, ob sie sie liebe. Ihre Mutter presste die Lippen zusammen, ehe sie kaum hörbar antwortete: „Ich habe es versucht.“
Tränen brannten ihr in den Augen. Dabei hatte sie geglaubt, längst darüber hinweg zu sein. Rhia stand auf, und Lukas ließ die Hand sinken. „Erzähl mir von dir, Lukas. Du hast mir mal gesagt, du würdest das Chaos anderer Leute beseitigen. Wie meinst du das?“
Sein Gesicht wurde ausdruckslos, und sie rechnete damit, dass er nicht antworten würde. Die vertrauten Momente, die sie gerade genossen hatte, waren verloren.
„Meine Mutter verließ meinen Vater, als ich fünf war“, sagte er plötzlich. „Sie hatte sich in einen anderen verliebt, einen Rennfahrer.“
„Und?“
„Als ich neun war, kamen sie bei einem Verkehrsunfall ums Leben – für mich eine wichtige Lektion.“ Er wusste noch wie heute, was sein Vater gesagt hatte: Siehst du, wie so was endet? Wenn man der Liebe hinterherrennt, statt seine Pflicht zu tun?
Lukas hörte auch die zynische Stimme seiner Mutter, seine eigenen flehenden Worte.
„Welche Lektion?“
„Selbstsüchtig hat sie nur ihre eigenen Wünsche im Kopf gehabt und nicht an die Verantwortung gedacht, die sie für ihren Mann und ihre Kinder hat. Das musste ja so enden.“
Als Rhia etwas sagen wollte, hob er die Hand. „Und meine drei Schwestern sind genau wie sie. Antonia, Christos’ Mutter, hat einige Entziehungskuren hinter sich, ist geschieden und ein seelisches Wrack. Daphne ist ein frustrierter Single, der sich auf wilden Partys die Nächte um die Ohren schlägt und ständig Ärger mit den Medien hat. Und Evanthe, die Jüngste, leidet unter Magersucht und hat schon einen Selbstmordversuch hinter sich. Alles, weil sie sich von Lust und Verlangen leiten lassen – was sie Liebe nennen. Es macht sie schwach, bemitleidenswert.“ Angewidert schüttelte er den Kopf. „Verstehst du, was ich meine?“
„Ja, ich verstehe.“ Doch sie sah auch drei Frauen, die sich verzweifelt nach Liebe sehnten und immer wieder enttäuscht wurden. Wenn ihr eigenes Leben anders verlaufen würde, könnte ihr vielleicht das Gleiche passieren.
Will ich deshalb hier sein? Die Frage kam aus heiterem Himmel und brachte
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