Julia Extra Band 0292
der einen, die mir echt am Herzen liegt, geht es um die Ausbeutung landschaftlich reizvoller Gegenden durch die Freizeitindustrie. Du kennst das ja: Kaum hat jemand eine noch unberührte Ecke der Welt – zum Beispiel in Polynesien oder Java – entdeckt, wird alles zugebaut und vermarktet, aber die Einheimischen gehen leer aus. Ich würde gern dafür sorgen, dass auch sie davon profitieren, wenn ihre Strände zu Freizeitparks mutieren.“
Simone schaffte es, ihr Erstaunen nicht allzu deutlich zu zeigen. Interesse an so ernsten Themen hätte sie Ryan gar nicht zugetraut.
„Ja, es ist sehr wichtig, dass wir Journalisten uns mit unseren Artikeln für die Benachteiligten in der Gesellschaft einsetzen.“ Sie lächelte ihn anerkennend an. „Und worum geht es in der anderen Story?“
„Um die Superwelle, die den Surfern keine Ruhe lässt. Angeblich könnte sie sich vor Tasmanien aufbauen, weil der Meeresboden dort gewisse geologische Eigenheiten aufweist. Darüber würde ich auch liebend gern schreiben. Aber du interessierst dich doch nicht wirklich im Einzelnen für meine Pläne, oder?“, hakte er skeptisch nach.
Wenn sie ehrlich war, musste sie zugeben, dass sie sich immer mehr für ihn zu interessieren begann und damit für alles, was ihn irgendwie betraf. Dass sie beide denselben Beruf hatten, war natürlich ein Plus.
Außerdem redete sie lieber über den Job als über die Familie. Es war weniger riskant.
„Tut mir leid, dass mein Vater mich vorhin so schnell aus der Ruhe gebracht hat“, entschuldigte Ryan sich, nachdem er den Becher geleert und auf den Couchtisch gestellt hatte. „Das hat uns den schönen Abend verdorben.“
„Inzwischen hast du dich aber wieder ganz gut gefangen“, lobte sie ihn.
„Schön. Ich habe gehofft, wir könnten uns jetzt öfter treffen.“
Ihr Herz schien einen Schlag lang auszusetzen. Der alles entscheidende Moment war gekommen.
Sie mochte Ryan wirklich, deshalb ließ sie sich besser gar nicht erst mit ihm ein, denn sie war nicht die richtige Frau für ihn. Völlig unfähig, echte Beziehungen einzugehen. Immer verkrampft, weil sie fürchtete, ihr Geheimnis ungewollt zu verraten.
Wie die Pest vermied sie Situationen, in denen man von ihr erwartete, dass sie über ihre Vergangenheit sprach und von ihrer Familie erzählte.
Belle und Claire ihr Herz auszuschütten war echt revolutionär gewesen …
Ryan beobachtete sie, gespannt auf ihre Antwort.
Simone atmete tief durch. „Das klingt jetzt vielleicht merkwürdig, weil es unser erstes Treffen ist, aber ich muss dir ein Geständnis machen. Wegen des Wirbels, den ich um mein Tagebuch gemacht habe, hast du dir vielleicht schon gedacht, dass es einiges in meinem Leben gibt, was ich lieber für mich behalte.“ Sie drehte den Becher nervös in den Händen. „Ich weiß jetzt, wie problematisch die Beziehung zwischen dir und deinem Vater ist. Über meine Familie will ich allerdings nicht sprechen.“
„Aber Simone …“
„Warte! Es gibt da Dinge, die ich niemand erzählen möchte. Deshalb werde ich nervös, wenn mir Menschen nahekommen. Ich versuche, meine Gefühle zu unterdrücken, und … na ja, das fördert Beziehungen nicht gerade.“
Endlich blickte sie auf und erwartete, von ihm ablehnend gemustert zu werden, aber in seinen dunkelbraunen Augen spiegelte sich echtes Mitgefühl.
„Du hältst dich, wie es scheint, für einen schwierigen Fall“, vermutete er und lächelte schief.
„Das kannst du laut sagen, Ryan. Und wer braucht so was schon?“
„Keine Ahnung. Es steckt ohnehin kein erkennbarer Sinn dahinter.“ Er zuckte die Schultern. „Anders formuliert: Die Gesetze der Anziehungskraft zwischen Menschen sind keiner wissenschaftlichen Logik unterworfen.“
Schön gesagt, stimmte sie im Stillen zu. Vor allem das mit der Anziehungskraft. Anscheinend hatte er die auch von Anfang an gespürt, von dem Moment an, als sie sich vor dem Flughafen tief in die Augen gesehen hatten.
„Aber wir wollen nichts überstürzen“, fuhr er fort. „Niemand zwingt uns, jetzt gleich einen lebenslangen Vertrag zu unterzeichnen. Allerdings bedeutet das wiederum nicht, dass wir unser Kennenlernen nicht genießen dürfen.“ Lächelnd zwinkerte er ihr zu.
Ich bin wirklich zu albern, beschimpfte Simone sich. Wieso zerbrach sie sich den Kopf über ihre Unfähigkeit, länger andauernde Beziehungen einzugehen, wenn Ryan und sie erst ein Mal zusammen gegessen, ein Mal zusammen Kakao getrunken und sich erst ein einziges Mal geküsst
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