Julia Extra Band 0294
reisen.“
Argwöhnisch musterte er sie. Er ahnte, dass mehr hinter dem Gefühlsausbruch steckte. Sie hatte ihm gegenüber nie einen Mann in ihrem Leben erwähnt, aber war es womöglich eine unglückliche Liebe, die sie zwang, Yorkshire zu verlassen?
Dieser Verdacht versetzte ihm einen Stich. Aber er ließ sich nichts anmerken und stellte kühl fest: „Ich habe dich gar nicht für eine Karrierefrau gehalten.“
Sie blickte ihm unverwandt ins Gesicht, mit undefinierbarer Miene. „Aber du kennst mich ja auch nicht wirklich, oder?“
Die Gegenfrage wirkte auf ihn wie ein Schlag ins Gesicht, obwohl ihre Stimme durchaus freundlich und ruhig klang. Er glaubte, sie zu kennen. Sie sprach stets recht offen über sich, ihre Familie und Freunde. Doch über ihr Liebesleben war nie ein Wort gefallen. Deshalb hatte er angenommen, dass sie keines besaß. Neigte er zu voreiligen fälschlichen Mutmaßungen? Oder vernachlässigte er dieses Thema grundsätzlich, weil er selbst nicht gern darüber sprach?
Doch was war mit den unzähligen Stunden, die Gina der Firma gewidmet hatte? Was bedeutete die Hingabe an die Arbeit und die Loyalität zu ihm wie seinem Vater? Die stete Bereitschaft, spontan Überstunden einzulegen? Der Eifer, ihm selbst bei enormem Arbeitsaufkommen geduldig ein Prozedere zu erklären, mit dem er nicht vertraut war?
Anmaßend hatte er all das als selbstverständlich hingenommen und war davon ausgegangen, dass die Firma ihren ganzen Lebensinhalt darstellte. Doch warum sollte das so sein? Bei ihrem ansprechenden Aussehen war es eher naheliegend, dass es einen Mann im Hintergrund gab.
„Dann verrate mir dein ultimatives Ziel. Willst du deine Zelte hier total abbrechen und für immer in der Hauptstadt bleiben?“ Er beobachtete, wie sie sich mit der Zungenspitze über die Lippen strich, während sie über die Frage nachdachte, und sein Körper regte sich.
Schließlich antwortete Gina: „Ich bin mir nicht sicher. Möglicherweise. Wie gesagt, ich möchte gern reisen, und vielleicht lässt sich das ja mit einem Job kombinieren.“
Immer mehr tat sich eine völlig neue Seite an ihr auf, seit sie kurz nach Neujahr überraschend die Kündigung eingereicht hatte. Vieles passte überhaupt nicht in Harrys Gesamtbild von ihr. Er hielt sie für eine nüchterne und verlässliche, besonnene und ausgeglichene Person, die mit beiden Beinen fest auf dem Boden stand und nicht so abrupt Zuhause, Arbeitsplatz und Freunde aufgab, um in der großen Stadt ihr Glück zu suchen.
„Du steckst voller Überraschungen, Gina. Ich sehe in dir eher einen häuslichen, sesshaften Menschen, der unglücklich wird, wenn er sich weit von seinem Heimatort entfernt.“
Rebellisch reckte sie das Kinn vor. „London liegt nicht gerade am Ende der Welt.“
„Versteh mich bitte nicht falsch. Das sollte keine Kritik sein.“
„Na gut“, räumte sie ein und nippte an ihrem Glas.
„Wenn irgendwer den Drang zu reisen nachempfinden kann, dann bin ich es. Ich habe dich nur anders eingeschätzt – eher …“
„Langweilig?“
Verblüfft sah er sie an. „Natürlich nicht! Wie kannst du so etwas nur denken! Ich wollte sagen: eher zufrieden mit dem, was du hast, mit deinem Platz im Leben.“
„Man kann ganz zufrieden sein und sich trotzdem eine Veränderung wünschen“, konterte sie.
Ein Kellner servierte die Vorspeisen. Sobald er sich wieder entfernte, griff Harry über den Tisch, legte eine Hand auf ihre und versicherte sanft: „Ich wollte dich nicht beleidigen, und ich schwöre, dass du für mich nie langweilig bist.“ Gelegentlich wirkte sie sogar sehr aufreizend – zum Beispiel bei der Weihnachtsfeier, als ihm ihr Duft nach einem flüchtigen Kuss den ganzen Abend lang in der Nase geblieben war; oder wenn sie das Haar offen trug und er kaum der Versuchung widerstehen konnte, die glänzenden seidigen Locken zu streicheln.
Hastig zog Gina die Hand unter seiner hervor und zuckte die Schultern. „Es ist so oder so nicht weiter wichtig.“
„Doch. Wir sind schließlich Freunde. Oder etwa nicht?“
„Wir sind – wir waren – vor allem Arbeitskollegen. Wir gehen freundlich miteinander um, aber das heißt noch lange nicht, dass wir befreundet sind.“
Verständnislos musterte er sie. Ihre Wangen glühten, und ihre Augen funkelten, doch ihre verschlossene Miene verriet nichts. Er konnte sich nicht erinnern, wann er sich das letzte Mal einer Frau gegenüber so unzulänglich gefühlt hatte. Nachdenklich strich er sich eine Haarsträhne
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